»Aber er war ein guter Mann, dieser UNHCR-Arzt. Er hat meine Mutter behandelt, ihr Medikamente gegeben und über den Winter geholfen.«
In diesem Winter habe er einen Jungen überfallen, gestand Tarik.
»Zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe ihm eine Glasscherbe an den Hals gedrückt und seine Wolldecke abgenommen, um sie meiner Mutter zu geben.«
Nach der überstandenen Krankheit seiner Mutter hatte er gelobt, keinen weiteren Winter in dem Lager zu verbringen, und den Entschluss gefasst, eine Arbeit anzunehmen und Geld zu sparen, um dann mit ihr in Peschawar eine Wohnung mit Heizung und fließendem Wasser zu beziehen. Als der Frühling kam, suchte er nach Arbeit. Von Zeit zu Zeit kam frühmorgens ein Lastwagen ins Lager, sammelte zwanzig bis dreißig junge Burschen ein und lieferte sie an einem Ort ab, wo es etwas für sie zu tun gab: ein Feld, das von Steinen befreit werden sollte, oder eine Obstplantage, auf der Äpfel zu pflücken waren. Zum Lohn dafür bekamen sie ein wenig Geld, manchmal auch nur eine Decke oder ein Paar Schuhe. Ihn aber habe niemand gewollt, sagte er.
»Ein Blick auf mein Bein, und das war’s dann.«
Es gab noch andere Jobs. Gräben ausheben, Hütten bauen, Wasser schleppen oder Sickergruben leeren. Die jungen Männer rissen sich um solche Verdienstmöglichkeiten, und Tarik ging immer leer aus.
Im Herbst 1993 lernte er dann einen Geschäftsmann kennen.
»Ich sollte für ihn einen Ledermantel nach Lahore bringen, wofür er mir Geld anbot, nicht viel, aber genug, um eine Wohnung für einen, vielleicht sogar zwei Monate anmieten zu können.«
Der Geschäftsmann habe ihm einen Busfahrschein gegeben und die Adresse einer Straßenecke nahe der Eisenbahnstation von Lahore, wo er den Mantel einem Freund seines Auftraggebers übergeben sollte.
»Ich ahnte natürlich, dass an der Sache was faul ist. Ich wusste es«, gestand er. »Er sagte, dass ich ganz allein auf mich gestellt sein würde, wenn man mich erwischte, und ich solle immer daran denken, dass er wisse, wo meine Mutter zu finden sei. Aber ich habe dem Geld nicht widerstehen können. Und es war bald wieder Winter.«
»Wie weit bist du gekommen?«, fragte Laila.
»Nicht sehr weit«, sagte Tarik und lachte verschämt. »Noch nicht einmal bis in den Bus. Aber ich hielt mich für immun, verstehst du? Ich dachte, mir kann nichts passieren. Als gäbe es da oben einen, der Buch führt, einen netten alten Mann mit Bleistift hinterm Ohr, der alles aufrechnet und Bilanz zieht, der auf mich herabschaut und sagt: ›Was soll’s, das lassen wir ihm durchgehen. Er musste schon sein Teil bezahlen und hat was gut.‹«
Das Haschisch war im Saum versteckt und fiel auf die Straße, als die Polizei mit einem Messer Nachforschungen anstellte.
Tarik lachte wieder, als er das sagte. Es war ein aufsteigendes, zittriges Lachen, das Laila noch von früher kannte und das immer dann von ihm zu hören gewesen war, wenn er versucht hatte, eine Dummheit wiedergutzumachen.
»Er hinkt«, sagte Zalmai.
»Ist es der, von dem ich glaube, dass er’s ist?«
»Er war nur zu Besuch«, antwortete Mariam.
»Du hältst dich da raus«, blaffte Raschid und drohte mit dem Finger. Und an Laila gewandt: »Na, wie sieht’s aus? Leila und Madschnun wieder vereint? Wie in alten Zeiten?« Sein Gesicht war wie versteinert. »Du hast ihn also hereingelassen. In mein Haus. Du hast ihm die Tür geöffnet. Er war hier mit meinem Sohn.«
»Du hast mich hinters Licht geführt, mich belogen«, entgegnete Laila mit Wut in der Stimme. »Du hast diesen Mann angeheuert… Du wusstest, dass ich dich verlassen würde, wenn ich hätte glauben können, dass er noch lebt.«
»Und du? Hast du mich etwa nicht belogen?«, brüllte Raschid. »Glaubst du, ich bin blind und sehe nicht, dass du mir einen harami ins Nest gelegt hast? Hältst du mich für einen Trottel, du Hure?«
Je länger Tarik sprach, desto mehr fürchtete Laila den Moment, wenn er zu reden aufhören würde. Denn dann wäre sie aufgefordert, Rechenschaft abzulegen und mit eigenen Worten zu erklären, was er wahrscheinlich schon wusste. Ihr schnürte sich jedes Mal das Herz zusammen, wenn er eine Pause einlegte. Sie wich seinen Blicken aus und betrachtete seine Hände, auf denen sich in den vergangenen Jahren dunkle Haare gebildet hatten.
Von der Zeit im Gefängnis erzählte Tarik kaum etwas; er erwähnte nur, dass er dort Urdu zu sprechen gelernt hatte. Als Laila mehr wissen wollte, zeigte er sich ungehalten und schüttelte den Kopf. In dieser Geste glaubte Laila, rostige Gitterstäbe und ungewaschene Körper erkennen zu können, gewalttätige Männer, überfüllte Korridore und Zellendecken voller Schimmel. Sie las seiner Miene ab, dass er unsägliche Erniedrigung und Verzweiflung hatte erleiden müssen.
Tarik sagte, seine Mutter habe versucht, ihn im Gefängnis zu besuchen.
»Sie ist dreimal gekommen, wurde aber jedes Mal abgewiesen«, berichtete er. »Die Wärter verlangten eine ›Besuchsgebühr‹, die wir nicht aufbringen konnten.«
Er hatte ihr Briefe geschrieben, obwohl er wusste, dass sie sie nicht erreichen würden.
»Auch dir habe ich geschrieben.«
»Wirklich?«
»Oh ja, Bände«, antwortete er. »Ergüsse, die deinen Freund Rumi vor Neid hätten erblassen lassen.« Er lachte wieder, lauthals diesmal, verblüfft, wie es schien, über seine Offenherzigkeit und zugleich verlegen.
Oben fing Zalmai zu plärren an.
»Also wie in alten Zeiten«, sagte Raschid später. »Ihr zwei. Schätze, du hast ihn dein Gesicht sehen lassen.«
»Ja«, sagte Zalmai. Und zu Laila: »Das hast du, Mami. Ich hab dich gesehen.«
»Dein Sohn hat nicht viel für mich übrig«, bemerkte Tarik, als Laila nach unten zurückgekehrt war.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Das ist es nicht. Er hat bloß… Ach, was soll’s?« Laila schämte sich für das, was ihr über Zalmai zu sagen auf der Zunge lag; er war ja noch ein Kind, ein kleiner Junge, der seinen Vater liebte und eine durchaus verständliche Aversion gegen diesen Fremden hatte.
Auch dir habe ich geschrieben.
Bände.
»Wie lange wohnst du schon in Murree?«
»Noch nicht ganz ein Jahr«, antwortete Tarik.
Er habe sich im Gefängnis mit einem älteren Mann angefreundet, einem Pakistani namens Salim, der früher ein guter Feldhockeyspieler gewesen sei. Er hatte schon häufig wegen kleinerer Vergehen eingesessen, büßte jetzt aber zehn Jahre ab, weil er einen Informanten der Polizei niedergestochen hatte. Tarik erklärte, dass wohl jedes Gefängnis einen Mann wie Salim habe, jemanden, der sich auch hinter Gittern zu helfen wisse und gute Beziehungen unterhalte, der einem sehr gefährlich werden, aber auch nützlich sein könne. Dieser Salim hatte für Tarik Erkundigungen über seine Mutter einholen lassen und ihm schließlich mit väterlich sanfter Stimme beigebracht, dass sie an Unterkühlung gestorben sei.
Tarik hatte sieben Jahre im Gefängnis verbracht. »Damit bin ich glimpflich davongekommen«, sagte er. »Ich hatte Glück. Mein Richter war milde. Vielleicht lag’s daran, dass er eine afghanische Schwägerin hatte. Ich weiß es nicht.«
Nach Ablauf seiner Haft zu Beginn des Winters 2000 hatte Salim ihm die Adresse und Telefonnummer seines Bruders gegeben. Sein Name war Sajid.
»Er sagte, Sajid sei Besitzer eines kleinen Hotels in Murree. Mit zwanzig Zimmern und einer Lounge. Eine Touristenherberge. Ich sollte ihn aufsuchen und mich auf Salim berufen.«
Schon auf den ersten Blick war Tarik von Murree angetan gewesen, von den verschneiten Kiefern und der kalten, frischen Luft, den Holzhäusern mit ihren Fensterläden und Schornsteinen, aus denen der Rauch aufstieg.
Hier bin ich richtig, hatte Tarik gedacht und an Sajids Tür geklopft. Dieser Ort war Welten entfernt von dem Elend, das er hinter sich zurücklassen wollte. Allein der Gedanke an Not und Kummer schien ihm hier fehl am Platz zu sein.
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