Sie wünschte, sie hätte den Brief nicht zerrissen.
Eine tiefe Männerstimme meldete sich am Telefon und informierte Mariam darüber, dass sie mit dem Bürgermeisteramt in Herat verbunden war.
Mariam räusperte sich. »Salaam, Bruder, ich suche nach einem bestimmten Einwohner von Herat. Jedenfalls hat er vor vielen Jahren dort gelebt. Sein Name ist Jalil Khan. Er wohnte in Shar-e-Nau und war Besitzer eines Kinos. Wissen Sie zufällig, wo er sich heute aufhalten könnte?«
Der Mann am anderen Ende war hörbar irritiert. »Deshalb rufen Sie im Bürgermeisteramt an?«
Mariam antwortete, dass sie nicht wisse, an wen sie sich sonst wenden könne. »Verzeihen Sie, Bruder. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sehr beschäftigt sind, aber in meinem Fall geht es um Leben und Tod. Deshalb rufe ich an.«
»Ich kenne diesen Mann nicht. Das Kino ist vor vielen Jahren geschlossen worden.«
»Wüssten Sie vielleicht jemanden, der ihn kennen könnte, eine Person, die…«
»Da ist niemand.«
Mariam schloss die Augen. »Bitte, Bruder. Es geht vor allem um Kinder. Kleine Kinder.«
Ein langer Seufzer.
»Vielleicht kann jemand…«
»Ich glaube, unser Hausmeister hat immer schon in Herat gelebt.«
»Ja, fragen Sie ihn, bitte.«
»Rufen Sie morgen wieder an.«
Mariam sagte, dass das unmöglich sei. »Ich habe dieses Telefon nur für fünf Minuten. Ein zweites Mal…«
Es klickte am anderen Ende, und Mariam fürchtete schon, dass die Verbindung abgebrochen war. Doch dann hörte sie Schritte und Stimmen, eine Autohupe aus der Ferne und ein von regelmäßigen Quietschlauten unterbrochenes Surren, vielleicht von einem elektrischen Ventilator. Sie legte den Hörer ans andere Ohr und schloss die Augen.
Sie stellte sich Jalil vor, wie er lächelnd in seine Jackentasche griff.
Ab. Natürlich. Verstehe. Also dann…
Eine Kette mit herzförmigem Anhänger, an dem winzig kleine Münzen hingen, in die Mond und Sterne eingraviert waren.
Probier sie mal an, Mariam jo .
Wie steht sie mir?
Ich finde, du siehst aus wie eine Königin.
Nach zwei oder drei Minuten waren wieder Schritte zu hören, ein Knarren, ein Klicken. »Er kennt ihn.«
»Wirklich?«
»Das behauptet er jedenfalls.«
»Wo ist er?«, fragte Mariam. »Weiß dieser Mann, wo sich Jalil Khan aufhält?«
Es entstand eine kurze Pause. »Er sagt, dass er schon vor Jahren gestorben ist. 1987.«
Mariam stockte der Atem. Natürlich hatte sie an diese Möglichkeit gedacht. Jalil wäre inzwischen weit über siebzig, aber…
1987.
Er hatte also damals nicht mehr lange zu leben gehabt und war den ganzen Weg von Herat gekommen, um sich zu verabschieden.
Sie trat an den Rand des Balkons. Von dort oben konnte sie den einstmals berühmten Swimmingpool des Hotels sehen, der jetzt leer und verschmutzt war, voller Einschusslöcher und Scherben zerplatzter Fliesen. Dahinter lag ein heruntergekommener Tennisplatz, das zerrissene Netz am Boden wie eine abgestreifte Schlangenhaut.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte die Stimme am anderen Ende.
»Entschuldigen Sie nochmals die Störung«, erwiderte Mariam lautlos weinend. Sie sah Jalil, wie er ihr zuwinkte und über die Steine im Fluss hüpfte, die Taschen voller Geschenke. Sie hatte jedes Mal den Atem angehalten und Gott darum gebeten, dass sie mehr Zeit mit ihm würde verbringen dürfen. »Danke«, sagte Mariam, doch der Mann am anderen Ende hatte bereits aufgelegt.
Raschid sah sie an. Sie schüttelte den Kopf.
»Zu nichts zu gebrauchen«, brummte er und riss ihr das Telefon aus der Hand. »Wie die Tochter, so der Vater.«
In der Lobby eilte Raschid auf die inzwischen frei gewordene Sitzgruppe mit dem Teetisch zu und steckte sich einen übrig gebliebenen jelabi -Kringel in die Tasche. Er würde ihn mit nach Hause nehmen und Zalmai geben.
Laila
Aziza packte folgende Gegenstände in eine Papiertasche: ihr geblümtes Hemd und das einzige Paar Socken, die nicht zueinander passenden Wollhandschuhe, eine alte, mit Sternen und Kometen gemusterte sandfarbene Decke, einen zerkratzten Plastikbecher, eine Banane und ihre Würfel.
Es war ein kalter Morgen im April 2001, kurz nach Lailas dreiundzwanzigstem Geburtstag. Der Himmel war grau, und ein feuchtkalter Wind rüttelte in Böen an der Fliegengittertür.
Vor wenigen Tagen hatte Laila erfahren, dass Ahmad Schah Massoud nach Frankreich geflogen war, um vor dem Europäischen Parlament zu reden. Massoud hatte sich in den Norden, seine Heimat, zurückgezogen, wo er die Nordallianz anführte, die einzig verbliebene Oppositionsgruppe, die den Taliban die Stirn bot. In Europa hatte Massoud den Westen vor Ausbildungslagern für Terroristen in Afghanistan gewarnt und die Vereinigten Staaten eindringlich gebeten, ihn im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.
»Wenn uns Präsident Bush nicht hilft«, hatte er gesagt, »werden diese Terroristen bald auch den Vereinigten Staaten und Europa großen Schaden zufügen.«
Einen Monat zuvor war Laila zu Ohren gekommen, dass die Taliban die riesigen Buddhas in Bamiyan, die von ihnen als sündhafte Götzenbildnisse bezeichnet wurden, zerstört hatten. Von Amerika bis China war ein Aufschrei der Empörung zu hören gewesen. Staatsmänner, Historiker und Archäologen der ganzen Welt hatten die Taliban in Briefen aufgefordert, diese beiden größten noch existierenden Kulturschätze Afghanistans zu schonen. Doch davon unbeeindruckt, hatten die Taliban die zweitausend Jahre alten Buddhas mit Sprengladungen bespickt, jede Explosion mit Allah-u-akbar -Rufen gefeiert und gejubelt, sooft Teile eines Arms oder Beins der Statuen in einer Wolke aus Staub zerfielen. Laila erinnerte sich, 1987 mit Babi und Tarik bei strahlendem Sonnenschein und von einer sanften Brise umweht auf dem größten der beiden Buddhas gestanden und einen Falken beobachtet zu haben, der hoch über dem Tal seine Kreise zog. Die Nachricht von der Zerstörung der Statuen hatte sie jedoch kaltgelassen. Es war für sie nicht von Belang. Was zählten Statuen, wenn das eigene Leben zu Staub zerfiel?
Solange Raschid sie nicht aufforderte zu gehen, hockte Laila in einer Ecke des Wohnzimmers auf dem Boden, schweigend und mit versteinerter Miene, das Haar in zerzauste Fransen aufgelöst. Auch wenn sie noch so tief einzuatmen versuchte, war ihr, als bekäme sie nie ausreichend Luft.
Unterwegs nach Karteh-Seh schaukelte Zalmai auf Raschids Armen, während Mariam Aziza bei der Hand hielt, die sich beeilen musste, um Schritt zu halten. Ein scharfer Wind blies ihnen entgegen und zerrte am Schal, den das Mädchen um den Hals gewickelt hatte. Aziza blickte düster drein; mit jedem Schritt schien sie der Ahnung näher zu kommen, dass sie hinters Licht geführt wurde. Laila hatte nicht den Mut aufgebracht, die Wahrheit zu sagen, und ihr stattdessen vorgespielt, dass sie eine Schule besuchen werde, eine besondere Schule, in der die Kinder zusammen essen und schlafen und nach dem Unterricht nicht nach Hause entlassen würden. Aziza stellte Laila auch jetzt wieder all die Fragen, die sie schon seit Tagen an sie gerichtet hatte. Ob die Kinder denn in verschiedenen Räumen oder in einem großen Saal schliefen. Ob sie damit rechnen könne, Freundschaften zu schließen. Ob die Lehrer auch ganz bestimmt nett seien.
Und immer wieder: »Wie lange soll ich dort bleiben?«
Als sie sich bis auf zwei Blocks ihrem Ziel genähert hatten, blieben sie stehen.
»Zalmai und ich warten hier«, sagte Raschid. »Oh, bevor ich’s vergesse.«
Er holte einen Kaugummi aus der Tasche, ein Abschiedsgeschenk, das er Aziza in steifer Großmutsgeste reichte. Aziza nahm es an und bedankte sich murmelnd. Laila staunte über die Freundlichkeit ihrer Tochter, über deren ungewöhnlich große Nachsicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Vor Kummer schnürte sich ihr das Herz zu, und mit Schmerzen dachte sie daran, dass Aziza an diesem Nachmittag nicht neben ihr schlafen würde, dass sie darauf würde verzichten müssen, ihre zarte Hand auf der Brust, ihren Kopf in der Armbeuge, ihren warmen Atem auf der Haut und ihre Füße an den Schenkeln zu spüren.
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