»Ich warne dich nicht noch einmal.«
»Von dir ist wahrhaftig nichts anderes zu erwarten.«
Und dann fiel er über sie her, prügelte mit Fäusten auf sie ein, riss ihr an den Haaren und schleuderte sie gegen die Wand. Weinend zerrte Aziza an seinem Hemd; auch Zalmai weinte und versuchte, ihn von seiner Mutter wegzuziehen. Raschid stieß die Kinder beiseite, warf Laila zu Boden und trat ihr in den Leib. Mariam versuchte, Laila mit ihrem eigenen Körper zu schützen, doch er trat weiter, blind in seiner Wut, mit Schaum vorm Mund und irrem Blick. Er trat, bis er nicht mehr konnte.
»Du legst es noch darauf an, dass ich dich umbringe, Laila«, schnaubte er keuchend und rannte aus dem Haus.
Das Geld ging aus. Sie hatten nichts mehr zu essen. Alles drehte sich nur noch darum, den Hunger zu stillen.
Wenn es hoch kam, gab es gekochten Reis, ohne jede Zutat. Immer häufiger mussten sie auf eine Mahlzeit verzichten. Manchmal brachte Raschid eine Dose Ölsardinen und trockenes Brot mit nach Hause, das wie Sägemehl schmeckte. Manchmal stahl er Äpfel und riskierte, dafür die Hand abgehackt zu bekommen. In Lebensmittelläden ließ er heimlich eine Dose Ravioli in der Tasche verschwinden, deren Inhalt dann durch fünf geteilt wurde; Zalmai bekam jedes Mal die größte Portion. Sie aßen rohe Rüben, mit einer Prise Salz gewürzt, welke Salatblätter und schwarze Bananen.
An Unterernährung zu sterben wurde zur realen Gefahr. Viele mochten auf einen solchen Tod nicht lange warten. Mariam hörte von einer Witwe aus der Nachbarschaft, die trockenes Brot zerrieben, mit Rattengift vermischt und all ihren sieben Kindern zu essen gegeben hatte. Zuletzt nahm sie selbst davon.
Bei Aziza zeichneten sich die Rippen unter der Haut ab; die runden Wangen fielen ein. Die Waden schrumpften, und ihre Haut nahm die Farbe dünnen Tees an. Wenn Mariam sie auf den Arm nahm, spürte sie die hervortretenden Hüftknochen. Zalmai lag mit stumpfen, halb geschlossenen Augen und schlaffen Gliedern am Boden oder auf dem Schoß seines Vaters. Wenn er genug Kraft dazu hatte, weinte er sich in den Schlaf, doch der Schlaf war gestört und ohne erholsame Wirkung. Sooft sich Mariam erhob, tanzten ihr weiße Funken vor den Augen. Ihr schwindelte, und in den Ohren rauschte es unablässig. Sie erinnerte sich, was Mullah Faizullah zu Beginn eines jeden Ramadan über den Hunger gesagt hatte: »Auch wer von einer Schlange gebissen wurde, kann schlafen, nicht aber der, der hungert.«
»Meine Kinder liegen im Sterben«, jammerte Laila. »Und ich muss tatenlos zusehen.«
»Nein«, sagte Mariam. »Dazu kommt es nicht. Mach dir keine Sorgen, Laila jo . Ich werde es zu verhindern wissen.«
An einem brütend heißen Tag zog sich Mariam ihre Burka über und ging, von Raschid begleitet, zum Hotel Intercontinental — zu Fuß, denn das Geld für eine Busfahrkarte konnten sie nicht aufbringen. Der Weg dorthin führte über einen steilen Anstieg. Von heftigen Schwindelanfällen geplagt, war Mariam immer wieder gezwungen, zu pausieren, um sich zu erholen. Völlig erschöpft erreichte sie schließlich ihr Ziel.
Vor dem Hoteleingang steuerte Raschid auf einen der Türsteher zu, die burgunderrote Livree und eine Schirmmütze trugen. Die beiden begrüßten sich mit einer Umarmung und wechselten ein paar Worte miteinander. Raschid deutete zwischendurch auf Mariam und machte den anderen auf sie aufmerksam. Ihr kam der Livrierte irgendwie bekannt vor.
Er verschwand dann im Foyer. Mariam und Raschid warteten. Von der Stelle, an der sie stand, konnte Mariam das Polytechnische Institut sehen, dahinter das alte Stadtviertel Khair khana und die Straße nach Mazar. Im Süden zeigte sich die leer stehende Brotfabrik Silo; in der blassgelben Fassade klafften tiefe Einschusslöcher. Weiter südlich erkannte Mariam die Ruine des Darulaman-Palastes, in dessen Garten sie und Raschid vor vielen Jahren gepicknickt hatten. Die Erinnerung an diesen Tag erschien ihr wie das Relikt einer Vergangenheit, mit der sie nichts mehr zu tun hatte.
Mariam konzentrierte sich auf diese Dinge, diese Wahrzeichen, denn sie fürchtete, ihren Mut zu verlieren, wenn sie eigenen Gedanken nachhing.
In kurzen Abständen fuhren Jeeps und Taxis vor. Türsteher eilten den Neuankömmlingen entgegen. Es waren durchweg bewaffnete bärtige Männer mit Turban und bedrohlich selbstsicherem Auftreten. Wenn sie an ihr vorbeikamen, schnappte sie ein paar Brocken auf. Die meisten sprachen Paschto oder Farsi, aber Mariam hörte auch Worte auf Urdu und Arabisch.
»Unsere wahren Herren«, flüsterte Raschid. »Pakistani und arabische Islamisten. Die Taliban sind nur deren Handlanger. Das da sind die eigentlichen Spieler, und Afghanistan ist ihr Spielfeld.«
Raschid erklärte, gehört zu haben, dass diese Leute im ganzen Land mit Wissen der Taliban geheime Lager unterhielten, in denen junge Männer zu Selbstmordattentätern und Dschihad-Kämpfern ausgebildet würden.
»Warum braucht er so lange?«, fragte Mariam.
Raschid spuckte auf den Boden und scharrte mit dem Fuß Dreck über seinen Auswurf.
Eine Stunde später winkte sie der Türsteher durchs Portal. Ihre Absätze klapperten auf den Bodenfliesen einer angenehm kühlen Vorhalle. Mariam sah zwei Männer in ledernen Sesseln sitzen, zwischen ihnen ein niedriger Tisch, auf dem sie ihre Gewehre abgelegt hatten. Sie tranken schwarzen Tee und aßen in Sirup getränkte und mit Puderzucker bestreute jelabi -Kringel. Mariam dachte an Aziza, die jelabi liebte, und wandte den Blick ab.
Der Türsteher führte sie auf einen Balkon. Er zog ein kleines schwarzes schnurloses Telefon und ein Stück Papier aus der Tasche, auf dem eine Telefonnummer geschrieben stand. Darüber lasse sich sein Vorgesetzter auf dessen Satellitentelefon erreichen, sagte er Raschid.
»Ich gebe dir fünf Minuten«, sagte er. »Mehr nicht.«
»Tashakor«, dankte Raschid. »Das werde ich dir nicht vergessen.«
Der Türsteher nickte und zog sich zurück. Raschid wählte und reichte Mariam das Telefon.
Mariam lauschte dem blechernen Rufzeichen und dachte an jenen Tag vor dreizehn Jahren im Frühjahr 1987 zurück, an dem sie Jalil zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte, auf einen Stock gestützt, vor ihrem Haus gestanden, neben einem blauen Mercedes mit Herater Kennzeichen und weißem Mittelstreifen auf Motorhaube, Dach und Heck. Drei Stunden lang stand er dort, rief immer wieder ihren Namen und wartete, so wie sie einmal vor seinem Haus gewartet hatte. Sie hielt sich hinter dem Vorhang versteckt, lugte durch einen winzigen Spalt und sah, dass sein Haar schütter und weiß geworden war. Er hielt sich ein wenig gebückt, trug Brille und wie immer eine rote Krawatte sowie ein weißes Taschentuch in der Brusttasche. Vor allem fiel ihr auf, dass er dünner geworden war, sehr viel dünner; er schien in seinem dunkelbraunen Anzug zu verschwinden.
Jalil hatte sie offenbar gesehen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ihre Blicke waren einander begegnet, wieder, wie schon vor vielen Jahren, zwischen einem Spalt im Vorhang. Mariam war ihm ausgewichen, hatte sich aufs Bett gesetzt und darauf gewartet, dass er wegfuhr.
Er hatte einen Brief für sie vor der Tür zurückgelassen. Daran dachte sie jetzt. Sie hatte ihn tagelang unter ihrem Kissen versteckt gehalten, manchmal hervorgezogen und hin und her gewendet, am Ende aber ungeöffnet zerrissen.
Und nach all den Jahren versuchte sie nun, Jalil anzurufen.
Mariam bedauerte, ihm die Tür nicht geöffnet zu haben. Was hätte es geschadet, ihn hereinzubitten und erklären zu lassen, was er auf dem Herzen hatte? Er war ihr Vater. Zugegeben, kein guter Vater, aber im Vergleich zu Raschids Bösartigkeit oder der Brutalität und Gewalt, mit der sich andere Männer bekriegten, erschienen ihr Jalils Fehler nun durchaus verzeihlich.
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