Während die voll behängte Wäscheleine vor ihr auf und ab wippte, empfand sie jetzt Mitleid für Raschid. Auch er hatte es nicht leicht gehabt in seinem Leben, das von Verlust und traurigen Schicksalswendungen geprägt war. Ihre Gedanken kehrten zu dem Jungen zurück, Yunus, der in diesem Hof Schneemänner gebaut hatte, dessen Füße über dieselben Stufen gestiegen waren. Der See hatte ihn seinem Vater entrissen, verschluckt wie der Wal den Propheten gleichen Namens. Es schmerzte Mariam, es schmerzte sie sehr, sich vorzustellen, wie Raschid in seiner Hilflosigkeit und Panik am Ufer des Sees herumgeirrt sein mochte, flehentlich darum bittend, dass ihm sein Sohn zurückgegeben werde. Und zum ersten Male empfand sie eine wirkliche Verwandtschaft mit ihrem Mann. Vielleicht, so dachte sie, würde am Ende doch noch ein gutes Paar aus ihnen werden.
Als Mariam nach dem Arztbesuch mit dem Bus nach Hause fuhr, wusste sie selbst nicht, wie ihr geschah. Alles, worauf ihr Blick fiel, leuchtete in hellen Farben, sogar die grauen Betonhochhäuser, die Blechdächer, die zur Straße hin offenen Läden und das trübe Wasser in den Abflusskanälen. Es war, als hätte sich ein Regenbogen über ihre Augen gespannt.
Raschid, der neben ihr saß, trommelte mit behandschuhten Fingern auf den Schenkeln und summte eine Melodie. Sooft der Bus durch ein Schlagloch fuhr, schnellte seine Hand vor und legte sich schützend auf ihren Bauch.
»Was hältst du von Zalmai?«, fragte er. »Ein schöner Paschtunenname.«
»Und wenn’s ein Mädchen ist?«, entgegnete Mariam.
»Ich glaube, es ist ein Junge. Ja. Ein Junge.«
Plötzlich ging ein Raunen durch den Bus. Mehrere Fahrgäste deuteten nach draußen; alle reckten die Hälse, um zu sehen, was da vor sich ging.
»Schau mal«, sagte Raschid und tippte an die Scheibe. Er lächelte. »Siehst du?«
Auf der Straße waren die Passanten stehen geblieben. Hinter den Fenstern der Autos, die vor der Verkehrsampel warteten, tauchten Gesichter auf, die nach oben blickten, einem Gewimmel tanzender Schneeflocken entgegen. Woran, so fragte sich Mariam, mochte es wohl liegen, dass der erste Schneefall des Jahres alle zu verzaubern schien? Lag es an der seltenen Möglichkeit, zu sehen, was noch vollkommen rein und unbelastet war? An dem Ausblick auf eine neue Jahreszeit, einen Neubeginn voller Hoffnungen, die noch nicht enttäuscht waren?
»Wenn’s ein Mädchen ist…«, sagte Raschid, »also angenommen, es wäre ein Mädchen, was es aber nicht ist, kannst du ganz allein entscheiden, wie sie heißen soll.«
Am nächsten Morgen wurde Mariam von Sägegeräuschen und Hammerschlägen geweckt. Sie umwickelte sich mit einem Schal und ging hinunter in den verschneiten Vorhof. Das Schneetreiben der vergangenen Nacht hatte sich gelegt. Kohlegeruch hing in der Luft. Über der Stadt lag eine gespenstische Stille; sie glich einer riesigen weißen Steppdecke, aus der hier und da Rauchsäulen emporstiegen.
Raschid war im Werkzeugschuppen und hämmerte Nägel in ein Holzbrett. Als er sie sah, zog er einen Nagel aus dem Mundwinkel und sagte: »Eigentlich wollte ich dich damit überraschen. Er wird eine Wiege brauchen. Die solltest du aber erst sehen, wenn sie fertig ist.«
Mariam hätte sich gewünscht, dass er nicht all seine Hoffnungen auf einen Jungen setzte, und sosehr sie sich auch über ihre Schwangerschaft freute, belasteten sie seine Erwartungen. Tags zuvor war Raschid ausgegangen und mit einem Wildledermantel für einen Jungen nach Hause zurückgekehrt, gefüttert mit weichem Lammfell und roten und gelben Seidenstickereien auf den Ärmeln.
Raschid machte sich daran, ein langes, schmales Brett in der Mitte zu zersägen, und sagte, dass er sich wegen der Treppe Sorgen mache. »Dazu werden wir uns was einfallen lassen müssen, wenn er zu klettern anfängt.« Das Gleiche gelte für den Ofen, meinte er. Außerdem müsse darauf geachtet werden, dass alle Messer und Gabeln außer Reichweite für ihn blieben. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Jungs sind ziemlich übermütig.«
Mariam fröstelte und zog den Schal enger.
Am nächsten Morgen erklärte Raschid, dass er Freunde zum Essen einladen wolle, um mit ihnen zu feiern. Den ganzen Vormittag über las und wässerte Mariam Linsen und Reis. Sie zerteilte Auberginen für borani und kochte Lauch und Hackfleisch für aushak.
Sie scheuerte den Boden, klopfte die Vorhänge aus und lüftete das Haus, obwohl es wieder zu schneien angefangen hatte. Entlang der Wände im Wohnzimmer legte sie Matratzen und Kissen aus und stellte Schalen mit Süßigkeiten und gerösteten Mandeln auf den Tisch.
Bevor die ersten Männer eintrafen, hatte sie sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Während die Stimmen und das Gelächter im Erdgeschoss immer lauter wurden, lag sie im Bett und befühlte ihren Bauch. Sie dachte an das, was in ihr heranwuchs, und glaubte, vor Glück fast zu zerspringen. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Mariam erinnerte sich an die sechshundertfünfzig Kilometer lange Busfahrt mit Raschid, von Herat nahe der iranischen Grenze im Westen bis nach Kabul im Osten. Sie hatten kleine und große Städte passiert, zahllose Ortschaften, die eine nach der anderen vor ihnen auftauchten. Sie waren über Bergpässe und durch wüste Landstriche gefahren, von einer Provinz zur nächsten. Nun war sie hier, diesseits der steinigen Hügel, in ihrem eigenen Zuhause, mit einem Mann an ihrer Seite, aufgebrochen zu einer Reise in eine neue, ersehnte Provinz: Mutterschaft. Wie köstlich war es, an dieses Kind zu denken, ihr Kind, das gemeinsame Kind. Wie herrlich war das Wissen darum, dass ihre Liebe zu diesem Kind schon jetzt alles andere in den Schatten stellte und dass sie es nicht mehr nötig hatte, mit Kieselsteinen zu spielen.
Im Wohnzimmer erklang ein Harmonium, dazu das Klopfen eines Schlegels zum Stimmen einer tabla. Jemand räusperte sich. Und dann wurde gepfiffen, in die Hände geklatscht, gejauchzt und gesungen.
Mariam streichelte ihren Bauch. »Noch kaum größer als ein Fingernagel«, hatte der Arzt gesagt.
Ich werde Mutter, dachte sie.
»Ich werde Mutter«, sagte sie, lachte und wiederholte den Satz ein ums andere Mal.
Wenn Mariam an ihr Kind dachte, schwoll ihr Herz an. Es schwoll und schwoll, bis all das, was sie an Verlust, Trauer, Einsamkeit und Erniedrigung in ihrem Leben erfahren hatte, wie weggespült war. Jetzt wusste sie, warum Gott sie den weiten Weg hierher geführt hatte. Sie erinnerte sich an einen Koranvers, der ihr von Mullah Faizullah beigebracht worden war: Und Allah ist der Osten und der Westen, wohin ihr euch auch wendet, folgt ihr Seinem Ratschluss… Sie rollte ihren Gebetsteppich aus und sprach den namaz. Als sie damit fertig war, legte sie die Hände vors Gesicht und bat Gott, dass sich das Glück nicht von ihr abwenden möge.
Es war Raschids Idee, in den hamam zu gehen. Mariam hatte nie zuvor ein Badehaus aufgesucht, doch er sagte, es gebe gerade im Winter nichts Schöneres, als nach einem Schwitzbad wieder hinaus ins Kalte zu treten und die wohlig warme Haut zu spüren.
Im hamam war der Wasserdampf so dicht, dass Mariam die anderen Frauen darin nur als schemenhafte Gestalten ausmachen konnte, eine Hüfte da, dort die Kontur einer Schulter. Junge Mädchen kreischten, alte Frauen schnaubten, und das Geplätscher von Wasser hallte von den Wänden wider, wo Rücken geschrubbt und Haare eingeseift wurden. Mariam saß für sich in einem entlegenen Winkel und bearbeitete ihre Fersen mit einem Bimsstein, abgeschirmt von einem Vorhang aus Dampf.
Plötzlich fing sie zu bluten an. Sie schrie laut auf.
Laufgeräusche waren zu hören, klatschende Füße auf nassen Steinen. Gesichter tauchten vor ihr auf. Zungen schnalzten.
Später berichtete Fariba ihrem Mann, dass sie, von einem Schrei alarmiert, in den hinteren Teil der Halle geeilt sei, wo sie Raschids Frau zitternd und die Arme um die Knie geschlungen in einer Blutpfütze habe hocken sehen.
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