»Wenn ich ihn nur gesehen und nicht gehört hätte, könnte das angehen. Aber ich habe ihn niesen hören, und keiner sonst auf der Welt niest so wie er. Außerdem habe ich seinen Blick gesehen. Auch sein Lachen gehört. Daran hat sich nichts verändert.«
»Vielleicht ist er als Investor wiedergekommen? Ich habe mir sagen lassen, dass wir hier wieder der Administration von Tsingtau unterstellt werden sollen. Wenn das kommt, werden die Boden- und Immobilienpreise in die Höhe schnellen. Vielleicht deswegen?«
Ich antwortete: »Rate mal, mit wem ich ihn gesehen habe?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Mit Xiaobi.«
»Mit wem?«
»Xiaobi aus der Froschzuchtfarm, Backes Sekretärin.«
»Auf den ersten Blick habe ich gesehen, dass sie ein Flittchen ist. Die treibt es auch mit Backe und deinem kleinen Cousin. Das kannst du mir glauben!«
6
Kleiner Löwe war die Froschzuchtfarm verhasst, Yuan Backe und mein kleiner Cousin waren ihr zutiefst unsympathisch. Aber nur wenige Tage, nachdem wir die Chinesisch-Amerikanische Mutter-und-Kind-Klinik besichtigt hatten, sagte sie zu mir: »Renner, ich gehe ab morgen in der Froschzuchtfarm arbeiten.«
Hatte ich mich verhört? Ich schaute sie an, sie lächelte über das ganze Gesicht: »Wirklich! Das ist kein Scherz.«
Ihr Gesicht wurde wieder ernst: »Was den Froschkram angeht, gebe ich mir alle Mühe, die hartnäckigen Bilder von Fröschen aus meinem Kopf zu verscheuchen. Nachdem ich die Fernsehsendung mit Gugus Geschichte gesehen habe, habe ich beinahe selbst eine Froschphobie entwickelt.«
»Trotzdem willst du bei Backe die Frösche füttern?«
»Weißt du, Renner, im Grunde ist es doch so: An einem Frosch ist nichts Furchtbares. Menschen und Frösche haben dieselben Urahnen. Außerdem sehen die Kaulquappen haargenau aus wie die menschlichen Samenfäden. Die Eier im Froschlaich und die des Menschen sehen auch genau gleich aus. Noch etwas! Hast du mal einen präparierten menschlichen Fötus im dritten Monat gesehen? Der hat noch einen langen Schwanz, genau wie die Kaulquappen, die auch erst einmal die Metamorphose durchmachen.«
Verstört schaute ich meine Frau an.
Sie redete, als rezitierte sie ein Gebet:
»Warum werden die Schriftzeichen für Frosch und für Baby gleichlautend Wa ausgesprochen? Warum ist der erste Schrei des Neugeborenen, wenn es gerade aus dem Leib der Mutter gekommen ist, dem Quaken der Frösche so ähnlich? Warum haben die Niwawa-Tonkinder bei uns in Nordost-Gaomi so oft einen Frosch im Arm? Warum heißt die große Muttergöttin, die Urahnin der Menschheit, Nü Wa? Wa wie Frosch und Wa wie in Niwawa und Wa wie Baby? Das Wa aus Nü Wa, der großen Urahnin des Menschengeschlechts, und das Wa aus Qing Wa, dem Frosch, ist doch Beweis genug, dass der Weg der menschlichen Evolution über den Frosch und nicht über den Affen führt. Das mit dem Affen stimmt überhaupt nicht ...«
Ich hörte langsam heraus, von wem Kleiner Löwe ihre Weisheiten haben musste, dieser Stil und diese Argumentation konnten nur auf dem Mist von Backe und meinem Cousin gewachsen sein.
»Na gut«, sagte ich lachend, »wenn es dir zu Hause zu langweilig ist, geh dorthin, um dir die Zeit zu vertreiben. Aber ich denke, es wird keine Woche dauern und du lässt dich da nicht mehr blicken.«
7
Sugitani san, lieber Freund, obwohl ich mich wegen dieser Froschfarm zunächst gesträubt hatte, war ich im Geheimen froh darüber, dass Kleiner Löwe sich Arbeit gesucht hatte. Vom Typ her bin ich nämlich ein Einzelgänger. Ich gehe gern allein in der Stadt bummeln, guck mir die Schaufenster und die Leute an und bin dabei mit meinen Erinnerungen beschäftigt. Wenn ich nicht an Vergangenes denke, versenke ich mich in die Sphären des Nichts.
Mit meiner Frau spazieren zu gehen, empfinde ich als Verpflichtung. Es quälte mich, wenn ich sie einmal nicht erfüllen konnte, trotzdem musste ich mich bei den pflichtgemäßen Spaziergängen verstellen und ihr den Fröhlichen vorspielen.
So dagegen hat sich alles zum Guten gewendet. Jetzt geht sie frühmorgens aus dem Haus zur Arbeit auf der Froschfarm. Sie fährt mit ihrem neuen Elektrofahrrad, das angeblich mein Cousin für sie gekauft hat. Ich sehe ihr durchs Fenster hinterher, wie sie gesittet auf ihrem Elektrofahrrad sitzt und den Weg am Fluss hinunterfährt, still vorwärts gleitend. Sobald sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, gehe ich auch.
Drei, vier Monate lang war ich täglich unterwegs und habe mir alle Viertel am Nordufer des Flusses angeschaut. Ich war im Wald, in den Baumschulen, bei den Gartenbauern, in verschiedenen Supermärkten und Tante-Emma-Läden, im Massagesalon, den die Blindenhilfe betreibt, im Fitness-Studio, beim Damenfriseur, in verschiedenen Apotheken, bei den Toto-Lotto-Annahmestellen, in Billigwarenhäusern, in Möbelläden, auf verschiedenen Bauernmärkten, wo die Bauern ihre Produkte direkt verkaufen, überall bin ich gewesen. Jedes Mal habe ich Fotos mit meiner Digitalkamera gemacht, wie ein Rüde, der jede Ecke markiert.
Ich bin auch durch die noch nicht für die Landwirtschaft erschlossenen Äcker gestromert, habe mir Baustellen angeschaut, auf denen im großen Stil gerodet und gebaggert wird. Auf einigen Baustellen waren die Hauptgebäude bereits fertiggestellt und kündeten schrill von der Versessenheit auf Neues. Bei manchen sah man nur riesige Baugruben, Stützen und Stahlträger. Ich erriet nicht, was daraus einmal werden sollte.
Nachdem ich mir das Nordufer gründlich angesehen hatte, verlegte ich mich aufs Südufer. Ich konnte die in schwindelnden Höhen mit ausgebreiteten Flügeln aufgehängte Schrägseilbrücke nehmen oder ein Bambusfloß, um an den etwa zehn Kilometer flussabwärts gelegenen Anleger der Familie Ai zu gelangen. Ich entschied mich immer für die Brücke, weil ich das für sicherer hielt.
Eines Tages beschloss ich, weil es auf der Brücke zu einer Karambolage gekommen war und der Verkehr sich staute, das Floß zu nehmen und meine Erinnerung an früher wieder aufleben zu lassen.
Den Staken betätigte ein Junge, der ein chinesisches Hemd mit Knotenknöpfen trug. Er sprach nur Mundart, benutzte jedoch ständig neumodische Wörter. Er hatte für sein Floß zwanzig Reisschalen starke Stangen aus Moso-Bambus zusammengefügt. Vorne hatte er einen holzgeschnitzten, bunt bemalten Drachenkopf angebracht und in der Mitte des Floßes zwei kleine Plastikschemel befestigt. Er händigte mir zwei Plastikbeutel aus, die ich mir über die Füße streifen sollte, damit Schuhe und Strümpfe trocken blieben.
Er lachte und erzählte, es kämen viele Städter, die würden Schuhe und Strümpfe lieber ausziehen. Die hübschen Frauen aus der Stadt steckten dann ihre nackten, zierlichen Füße ins Wasser, schneeweiß wie Salangidae-Stinte, und planschten damit herum. Daran habe er jedes Mal sehr viel Spaß.
Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und gab sie ihm. Er packte sie in einen Blechkasten und sagte mit einem Augenzwinkern: »Das kostet aber einen Yuan Lagergebühr!«
»Meinetwegen«, entgegnete ich. Dann warf er mir eine backsteinrote Weste zu: »Onkel, die müssen Sie überziehen, sonst behält mir mein Chef was vom Lohn ein.«
Als der Junge begann, das Floß mit dem Staken vom Steg abzustoßen, brüllten drei am Ufer hockende Flößer: »Plattschädel! Wenn das mal nicht schiefgeht! Den Kopp unter Wasser und ersaufen musst du!«
Geschickt schwang er den Staken: »Das wär schlimm. Wenn ich absaufe, muss euer Schwesterlein Witwe werden!«
Als das Floß ins Fahrtwasser kam, ging es wie der Wind stromabwärts. Ich zog meine Kamera hervor und machte von der großen Brücke ein Bild und zwei von der Uferlandschaft.
»Onkel, darf ich fragen, woher kommen Sie?«
»Was denkst du, woher ich komme?« Ich hatte in unserer Mundart geantwortet.
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