»Natürlich«, fügte sie hinzu, »habe ich mir nicht eingebildet, dass ich Gugu hinters Licht führen könnte. Wenn ich nur einmal nicht gleich pariere, weiß sie sofort, dass ich was auf dem Kerbholz habe.«
Als Kleiner Löwe und die anderen über Bord gegangenen Kader der Geburtenplaner endlich wieder alle an Bord waren, hatte sich das Floß der Wangs schon mehrere Kilometer entfernt.
Qin Strom war der Bootsmotor ausgegangen, nun war er schweißüberströmt dabei, ihn neu zu starten. Gugu donnerte und tobte. Kleiner Löwe und die Kader saßen im Boot, hielten die Köpfe über den Rand und erbrachen in einem fort Wasser.
Plötzlich hielt Gugu inne.
Sie polterte nicht mehr, sondern wurde still. Über ihr Gesicht schlich ein bitteres, trostloses Grinsen. Ein Sonnenstrahl kam zwischen den Wolken hervor, huschte über ihr Antlitz und verlor sich in den wogenden Wellen auf dem Wasser. In diesem Moment sah sie aus wie ein Held, der am Ende ist und keinen Ausweg mehr sieht.
Sie sagte leise zu Qin Strom: »Hör auf, dich zu verstellen! Schluss mit dem Theater!«
Qin Strom schaute sie einen Moment lang überrascht an. Dann zündete er augenblicklich und problemlos den Motor. Das Schnellboot preschte pfeilgeschwind auf das Floß der Wangs zu.
Ich klopfte Shizi den Rücken und beobachtete verstohlen die Tante. Sie sah niedergeschlagen aus, die Augen nur einen Spaltbreit geöffnet; ab und an bleckte sie die Zähne und grinste.
An was sie wohl dachte? Mir fiel plötzlich ein: Sie ist schon siebenundvierzig! Ihre Jugend und die Blüte ihres Lebens sind vorüber und sie bewegt sich auf dem Weg jenseits ihrer Lebensmitte. In ihren leidgeprüften, lebenserfahrenen Gesichtszügen konnte man schon die Wehmut des Alters lesen.
Ich erinnerte mich an das, was meine Mutter uns zu Lebzeiten mehrfach erklärt hatte: »Wozu sind die Frauen geboren? Frauen sind zum Kinderkriegen geboren. Die Frau erwirbt durch das Kinderkriegen Stand und Rang, sie erwirbt durch das Kinderkriegen Respekt und Würde, und sie empfängt durch das Kinderkriegen im höchsten Maße Glück und Ehre. Kann eine Frau keine Kinder bekommen, so ist das eine Tragödie. Denn ohne Kinder ist sie keine richtige Frau. Das Herz einer Frau, die nie Kinder geboren hat, wird hart; und wenn sie keine Kinder geboren hat, altert sie auch besonders schnell.«
Mutter hatte damit Gugu gemeint. Aber sie hatte es nie in ihrer Anwesenheit gesagt. Hatte das gealterte Aussehen der Tante wirklich etwas damit zu tun, dass sie niemals Kinder bekommen hatte? Sie war siebenundvierzig. Wenn sie sich jetzt beeilte und heiratete? Könnte sie dann vielleicht noch welche haben? Aber woher einen passenden Mann nehmen?
Tantes Boot hatte das Floß der Wangs im Nu eingeholt. Als sie ihm näher kamen, drosselte Qin Strom die Geschwindigkeit und manövrierte das Boot sachte längsseits.
Wang Bein stand mit dem Staken in der Hand am Heck, in einer Pose, als wolle er jeden Augenblick bis aufs Blut kämpfen.
Wang Leber hatte die kleine Ohr auf dem Arm. Er saß am Bug des Floßes.
Chen Nase stand mitten auf dem Floß, hielt seine Frau umfasst, weinte und lachte und brüllte gleichzeitig: »Galle, beeil dich und bring unser Kind zur Welt! Nun mach schon, Liebes. Krieg es jetzt, dann darf es am Leben bleiben! Wenn du’s jetzt kriegst, dann trauen die sich nicht mehr, uns zu töten! Wan Herz! Kleiner Löwe! Ihr habt verloren! Ha! Ihr seid gescheitert!«
Tränen liefen diesem hünenhaften Mann über das bärtige Gesicht und rannen in Rinnsalen herab.
Zu gleicher Zeit ließ Galle ein mark- und beinerschütterndes Brüllen hören.
Als das Patrouillenboot und das Floß zusammenstießen, beugte sich die Tante vor und streckte eine Hand aus.
Chen Nase zog ein Messer, er schien wie von Sinnen, wie ein kaltblütiger Mörder: »Nimm deine Teufelskrallen weg!«
Gugu sagte ganz ruhig: »Das sind keine Krallen von einem Teufel. Das ist die Hand einer Frauenärztin.«
Ich bekam dieses prickelnde Gefühl in der Nase, meine Augen wurden heiß, als ich verstand, was da geschah.
Ich schrie aus Leibeskräften: »Chen Nase, lass Gugu an Bord! Hilf ihr rauf! Lass sie Galle helfen, das Kind zu bekommen!«
Ich kriegte mit dem Enterhaken den Mast des Floßes zu fassen, und Gugu konnte mit ihrem massigen Körper auf das Floß hinüberwechseln. Kleiner Löwe sprang mit dem Arzttornister in der Hand hinterher.
Als sie Galles blutdurchtränkte Hose zerschnitten, drehte ich mich zur Seite, aber meine Hand hielt mit aller Kraft den Staken fest, damit das Patrouillenboot und das Floß zusammenblieben.
Einen Augenblick lang sah ich die kleine Galle ganz deutlich vor mir: Sie lag auf dem Floß in einer riesigen Blutlache, ihr zwergenhafter Leib mit dem hoch aufragenden Bauch erinnerte an einen erschreckten Delphin.
Der Strom brodelte flussabwärts, ungerührt Tag wie Nacht. 14Die schwarzen Wolken rissen auf und plötzlich war gleißendes Sonnenlicht. Der Floßkonvoi bewegte sich flussabwärts wie eine Schlange, die mit dem Kopf wackelt und mit dem Schwanz wedelt. Mein Floß war führerlos mittendrin.
Ich war voller Erwartung, hörte Galle weiter schreien und war voller Erwartung, hörte die ans Ufer klatschenden Wellen und war voller Erwartung, hörte die Esel vom Ufer her brüllen und war voller Erwartung.
Vom Floß her ertönte der Schrei eines Neugeborenen.
Ich wandte ruckartig den Kopf und sah Gugu den zu früh geborenen Säugling in beiden Händen halten, während Kleiner Löwe ihm über dem Nabel einen Mullverband anlegte.
»Es ist wieder ein Mädchen«, sagte Gugu.
Chen Nase blickte deprimiert zu Boden, er sah aus wie ein platter Autoreifen. Mit beiden Fäusten trommelte er wild auf sein Hirn ein, verzweifelt stieß er hervor: »Es ist aus, alles ist aus! Es ist meine Schuld, dass jetzt alles aus ist. Seit fünf Generationen haben wir Chens immer wenigstens einen einzigen männlichen Erben gehabt, und nun werden die Chens mit mir aussterben.«
Gugu schnauzte ihn an: »Du Vieh!«
Obwohl Gugus Motorboot Wang Galle und ihr Neugeborenes mit Höchstgeschwindigkeit zurück zum Anleger brachte, war Galles Leben nicht zu retten.
Kleiner Löwe erzählte, dass Wang Galle kurz vor ihrem Tod noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt habe. Sie hatte zu viel Blut verloren, ihre Gesichtshaut glich dünnem Goldpapier. Sie lächelte Gugu an und schien etwas zu murmeln. Gugu beugte sich über sie und hielt das Ohr dicht an ihren Mund. Kleiner Löwe erklärte, sie habe nicht hören können, was Galle Gugu gesagt habe, aber Gugu habe es deutlich verstanden.
Der Goldglanz wich von Galles Antlitz und es nahm eine graue Farbe an. Sie hatte die Augen weit geöffnet, aber sie strahlten nicht mehr. Ihr Körper hatte sich eingerollt und zusammengezogen wie ein zerknitterter leerer Mehlsack, wie der zurückgelassene Kokon, aus dem gerade die Motte entschlüpft ist, um in den Himmel zu fliegen. Gugu saß mit hängendem Kopf neben Galles Leichnam. Eine endlose Zeit verstrich.
Als sie sich erhob, seufzte sie schwer. Halb an Shizi gerichtet, halb ins Selbstgespräch versunken, sagte sie: »Was war das nun wieder?«
Galles Frühchen Chen Augenbraue überstand schließlich dank guter Pflege durch Gugu und Shizi die kritische Phase, in der man um sein Leben bangen musste, und überlebte.
7
Ich bin wirklich ein in jeder Hinsicht willensschwacher Mann.
Ursprünglich dachte ich, dass ich es Renmei schuldig sei, in meiner und Shizis Hochzeitsnacht bis zum Morgengrauen meditierend vor einer roten Kerze zu sitzen. Weil ich ihr nur so meine ehrliche Reumütigkeit und Sehnsucht zeigen könnte. Aber ich habe vor mich hinbrütend nur bis Mitternacht durchgehalten, dann bin ich schwach geworden und habe Arm in Arm mit Shizi im Bett gelegen.
Als ich Renmei heiratete, goss es in Strömen, in meiner Hochzeitsnacht mit Shizi goss es in Strömen und es ging ein Sturm. Es war eine Gewitternacht, Blitze zuckten unablässig vom Himmel, grell blauweißes Licht blendete, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern, und der Regen prasselte wie aus Kübeln nieder. Von überall her dröhnte das Klatschen und Prasseln der Wassermassen in unseren Ohren, der feuchte Wind mit dem Geruch von nasser Erde und verfaulten Pfirsichen drang durch die Ritzen der alten Holzfenster ins Hochzeitszimmer.
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