Der Grund, warum ich und Kleiner Löwe uns entschlossen hatten, Peking zu verlassen und wieder nach Hause zu ziehen, war nämlich, dass uns in Peking auf der Huguo-Tempel-Straße etwas Ähnliches zugestoßen war. Es hatte sich auch vor einem Restaurant ereignet. Es liegt gegenüber dem Pekinger Volkstheater, und sein Name ist ganz ähnlich, nämlich »Wildfasan«.
Als wir uns die Plakate des Theaters angeschaut hatten, waren wir auch über eine Kette gestolpert, die zwischen zwei rotweiß gestrichenen Pfosten aufgehängt gewesen war. Der Pfosten war genauso und ebenfalls deutlich entfernt vom Heck eines weißen Autos umgefallen. Aber eines der beiden vor dem Restaurant »Wildfasan« sitzenden jungen Mädchen mit blond gefärbtem Haar, einem Mäusegesicht und Lippen so schmal wie Messers Schneide war auf uns zugestürzt, weil es an dem Pkw einen stecknadelkopfgroßen weißen Punkt entdeckt hatte, der angeblich durch den umgefallenen Kettenpfosten entstanden war. Es hatte uns mit Händen und Füßen in einer abfälligen Art und Weise beschimpft, die mit widerlichen Kraftausdrücken im Pekinger Dialekt gespickt war. Sie sei schließlich in Peking groß geworden und habe schon alle möglichen Leute erlebt, aber ... »Ihr Bauerntölpel vom Land, ihr Weichschildkröten aus euren dreckigen Tümpeln, ihr steckt doch mit dem Kopf alle Tage im Dreck. Was habt ihr in unserer Hauptstadt zu suchen? Ihr blamiert uns Chinesen hier. Wir schämen uns für euch!« Das zweite, korpulente, streng nach Hämorridensalbe riechende größere der beiden Mädchen war vorgestürzt und hatte mir kurzum einen Faustschlag auf die Nase verpasst. Die im Rund um uns stehenden Gaffer, die Glatzköpfe und die barbäuchigen Alten hatten sofort begonnen, die beiden Frauen anzufeuern, sie spielten bei diesem Theater den Chor. Die alteingesessenen Pekinger hielten wie Pech und Schwefel zusammen, prahlten mit ihrem Status und ihrer großstädtischen Herkunft und nötigten uns, zu bezahlen und um Verzeihung zu bitten.
Sugitani san, ich Weichei habe bezahlt und mich entschuldigt.
Lieber Freund, wieder zu Hause haben wir beide wie die Schlosshunde geweint und beschlossen, Peking den Rücken zu kehren und wieder nach Gaomi zu ziehen. Weil wir gedacht haben, hier in Gaomi ist unsere Heimat und hier drangsaliert uns keiner.
Wer hätte annehmen können, dass diese zwei Frauen hier an Boshaftigkeit und Brutalität den Pekingerinnen in nichts nachstanden?
Ich kann nicht begreifen, lieber Freund, wie Menschen es fertigbringen, so unglaublich brutal zu sein, Sugitani san. Und, o Schreck! Nun war auch noch dieser leopardengleiche Junge wieder im Anmarsch. Die Tintenfischstücke hatte er inzwischen aufgegessen. Wenn er jetzt mit dem Spieß zustach, würde er noch schärfer und tiefer stechen. Ich wusste plötzlich, dass er der Sohn der Kleineren und dass die Korpulente seine Tante war. Nackter Überlebenswille zwang mich auf die Beine. Ich wollte weg.
Wegrennen war ja schon immer meine Stärke gewesen. Die langen Jahre des Lebens im Überfluss hatten mich vergessen lassen, dass ich ein wirklich guter Rennläufer war. In der lebensbedrohlichen Lage, in der ich jetzt steckte, konnte mein läuferisches Talent mir wieder von Nutzen sein. Die Frau wollte mich noch aufhalten, der Junge schrie schon aus Leibeskräften, da brüllte ich los wie ein Hund, den man in die Enge getrieben hat. Mein Anblick, der ganze Körper blutüberströmt, mit eingeschlagenen Zähnen und blutendem Mund, hatte sie wohl doch erschreckt – ich bin mir sicher, denn in dem Moment, als ich aufschrie, sah ich ihre versteinerten Gesichter. Wenn Frauen einen solchen Gesichtsausdruck haben, werde ich immer weich und mein Herz fließt über vor Mitleid.
Ich machte mir ihre Bestürzung zunutze und sprang mit einem Riesensatz über den schmalen Spalt zwischen zwei Autos hinweg. Und jetzt lauf, Wan Fuß, Wan Renner! – der fünfundfünfzigjährige Kleine Renner hatte sein altes Tempo wiedererlangt und stob davon. Ich rannte wie der Blitz durch die kleine Straße mit ihrem Duft nach Brathühnchen, Fisch, gebratenem Hammelfleisch und vielen anderen mir unbekannten Gerüchen. Ich spürte, wie meine Beine leicht wie Heu wurden, beim Auftreten schien der Boden unter mir hochzuschnellen und dem nachfolgenden Schritt noch mehr Kraft mitzugeben. Ich war wie ein Reh, wie eine Antilope, wie Superman, der auf dem Mond gelandet und schwerelos wie eine Schwalbe ist. Ich spürte, dass ich ein Ross war, ein edler Achal-Tekkiner, ein Himmelspferd, ein Blüter, der mit seinen Hufen fliegende Schwalben zu treffen vermag, unbeschwert, losgelassen.
Dieses Achal-Tekkiner-Gefühl war allerdings von kurzer Dauer, nur ein kurzes Traumbild. In Wirklichkeit keuchte ich schwer, ich schnaufte, als müsste ich Feuer spucken, mein Herz bummerte bis in mein Trommelfell, die Brust wollte mir zerreißen, der Kopf zerspringen, vor den Augen wurde mir sekundenweise schwarz, und meine Adern waren so prall, dass sie dem Druck fast nicht standhielten. Der Überlebenstrieb holte aus meinem Körper kurz vor dem Kollaps die letzten Kraftreserven heraus; es war ein Überlebenskampf, der seinem Namen alle Ehre machte. Ich hörte dicht neben mir ein donnergleiches Brüllen. Von vorn kam ein vollbärtiger junger Mann im schwarzen Sun-Yat-Sen-Anzug 25, er hatte grünblaue Augen wie zwei Glühwürmchen, die nachts in den Bergen die Straße überqueren. Gerade, als die schneeweißen Finger seiner Hand mich festhalten wollten, spie ich einen Mundvoll mit Blut vermischte Spucke aus, der sein gepflegtes Gesicht augenblicklich verfärbte. Ich hörte seinen Schmerzensschrei, dann hielt er die Hände vors Gesicht und ging in die Knie. Sugitani san, es tut mir aufrichtig leid, ich weiß, dass sein Versuch mich aufzuhalten, sicher eine ehrenvolle Tat war und von seiner Tugend zeugt. Ich dagegen verhielt mich wie ein Tintenfisch, wenn er in Gefahr ist. Dass ich ihn beschmutzte, seine Augen mit meinem Auswurf verletzte, ist mir zutiefst unangenehm. Wäre ich ein wirklicher Ehrenmann, so hätte ich doch das Rückgrat besessen, jedes spitze Messer hinter mir zu ignorieren; ich hätte ruhig angehalten und mich bei ihm entschuldigt.
Aber ich bin kein Ehrenmann, Sugitani san, ich bin des Umgangs mit Ihnen nicht würdig.
Am Straßenrand standen noch ein paar edle, biedere Naturen, die mich anriefen, aber nicht auf mich zukamen. Ihnen war wohl der Mut vergangen, als sie mich Blut spucken sahen. Sie warfen ihre halb ausgetrunkenen Coca-Cola-Dosen auf mich, das sojasoßenfarbene amerikanische Kult-Getränk schäumte golden, ich schüttelte es ab ...
Teurer Freund, alles, was geschieht, geht irgendwann zu Ende, wie gut oder wie schlimm die Sache auch sein mag, sie wird einen Ausgang haben.
Diese Verfolgungsjagd, die sich in ihr Gegenteil verkehrt hatte und zur Flucht auf Leben und Tod geworden war, fand ihr Ende, als ich schließlich auch den allerletzten Funken Kraft aufgebraucht hatte und bewusstlos vor dem Eingang der Chinesisch-Amerikanischen Mutter-und-Kind-Klinik zusammenbrach. Im Moment meines Zusammenbruchs kam ein wie Lapislazuli glitzernder, blauer Ferrari von der zwischen Bäumen im Grünen gelegenen Klinik und verließ durch den von Blumenduft geschwängerten Garten das Krankenhausgelände. Mein Kollaps hatte bei den Leuten im Auto zweifellos einen sehr unschönen Eindruck hinterlassen, blutüberströmt am ganzen Körper, wie ich war, glich ich einem vom Himmel gefallenen Hundekadaver. Zuerst waren sie wohl erschrocken, dann dachten sie daran, dass so ein Vorfall Unglück bringen könnte.
Je reicher die Leute, desto abergläubischer sind sie, das weiß ich. Sie glauben mehr noch als die Armen an das Schicksal, hängen viel mehr am Leben als jene. Das ist normal. Die Armen geben sich immer schnell auf, nach dem Motto: Einen angestoßenen Krug kann man auch gleich fortwerfen, er ist wertlos. Die Reichen dagegen hüten ihren Wohlstand wie eine nicht mit Gold aufzuwiegende blauweiße Porzellanvase.
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