Ich vermag nicht zu sagen, welche von den vorliegenden Gegenständen man glauben und welchem man nicht glauben soll.
Oder:
Mir ergeht es jetzt so, dass ich nichts von dem, was unter diese Frage fällt, dogmatisch setze oder aufhebe.
Oder:
Jedem von mir untersuchten Argument, das dogmatisch etwas beweist, scheint mir ein anderes Argument entgegenzustehen, das ebenfalls dogmatisch etwas beweist und das dem ersten in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit gleichwertig ist.
Besonders diese letzte Formulierung kann man demjenigen entgegenhalten, der abstruse Behauptungen über den Saharasand oder sonst etwas vorbringt. Sich eines Urteils zu enthalten vermittelt ein Gefühl geistiger Gelassenheit. Man kann die Frage nicht beantworten, aber eine Antwort erscheint auch gar nicht notwendig.
Für einen Pyrrhoneer gilt dies auch bei schwierigeren Fragen. Ist es erlaubt, jemanden anzulügen, damit es ihm besser geht? Epoché . Ist meine Katze hübscher als deine? Epoché . Macht Liebe den Menschen glücklich? Gibt es einen gerechten Krieg? Epoché . Und so weiter. Ein echter Pyrrhoneer wird sich auch in Fragen eines Urteils enthalten, bei denen der normale Mensch die naheliegende Antwort zu kennen glaubt. Legen Hühner Eier? Existieren tatsächlich andere Menschen? Fällt mein Blick jetzt, in diesem Moment, auf eine Tasse Kaffee? Alles ist epoché .
Den Pyrrhoneern lag es fern, sich zu beunruhigen und in einen paranoiden Strudel des Zweifels zu stürzen. Es ging ihnen ganz im Gegenteil um Gelassenheit in allen Dingen, um Ataraxie — ein Ziel, das sie mit den Stoikern und Epikureern teilten — und damit um Glück und Wohlbefinden. Der offenkundigste Vorteil ist, dass Pyrrhoneer sich nie den Kopf zerbrechen müssen, ob sie etwas falsch machen. Wenn sie sich mit ihrer Argumentation durchsetzen, ist es nur der Beweis dafür, dass sie richtig liegen; wenn nicht, zeigt es, dass sie zu Recht an ihrem eigenen Wissen gezweifelt haben. Sie vertreten gern unpopuläre, umstrittene Ansichten, einfach so aus Spaß. Montaigne beschrieb das so:
Falls ihr nachweist, dass der Schnee weiß ist, werden sie umgekehrt behaupten, er sei schwarz. Sagt ihr, er sei weder das eine noch das andre, entgegnen sie flugs, er sei beides. Äußert ihr nach sicherer Erkenntnis die Überzeugung, ihr verstündet nichts von der Sache, werden sie darauf beharren, ihr tätet es doch. Selbst wenn ihr kategorisch behauptet, ihr wärt diesbezüglich im Zweifel, werden sie das bestreiten und erklären, dass ihr keineswegs im Zweifel seid oder dass ihr euern Zweifel gar nicht beurteilen, geschweige nachweisen könnt.
Wahrscheinlich werden sie spätestens jetzt durch einen Schlag auf die Nase zum Schweigen gebracht, aber selbst das lässt sie kalt, es tangiert sie nicht, dass jemand auf sie wütend ist, und auch körperlicher Schmerz stört sie nicht sonderlich. Denn wer sagt, dass Schmerz schlechter sei als die Freiheit von Schmerz? Und wenn ein Knochensplitter in ihr Gehirn eindringt und sie sterben, na und? Ist es besser zu leben als zu sterben?
«Sei gegrüßt, skeptisches Behagen!», schrieb der irische Dichter Thomas Moore lange nach Montaigne:
Wenn des Irrtums Wellen verebbt sind,
wie süß ist es, endlich den ruhigen Hafen zu erreichen
und, sanft gewiegt vom wogenden Zweifel,
über die kräftigen Winde zu lächeln, die draußen wüten!
Dieses Behagen unterschied die Skeptiker von den gewöhnlichen Menschen — auch wenn sie sich, anders als die Epikureer, nicht aus der realen Welt zurückzogen. Über Pyrrhon selbst erzählte man sich seltsame Anekdoten. Er war so abgehoben und innerlich so gelassen, dass er auf die Außenwelt oft gar nicht reagierte. Ging er spazieren, wich er keinen Fußbreit von seinem Weg ab, so dass ihn seine Freunde davor bewahren mussten, in den nächsten Abgrund zu stürzen oder von entgegenkommenden Wagen überfahren zu werden. «Hatte er etwas zu sagen angefangen», schrieb Montaigne, «führte er es unbeirrt zu Ende, selbst wenn der, zu dem er sprach, längst auf und davon war.» Er wollte sich durch Äußerlichkeiten nicht von seinem inneren Zustand ablenken lassen.
Andere Geschichten indes deuten darauf hin, dass sogar Pyrrhon nicht immer und jederzeit die vollkommene Indifferenz bewahren konnte. Als ihn ein Freund in einem «erbitterten Streit» mit seiner Schwester antraf, warf er ihm vor, seine Grundsätze zu verraten. «Wie, soll selbst dieses Weibsbild zum Beweis meiner Lehrsätze dienen?», gab Pyrrhon zurück. Ein andermal, als er sich gegen einen Hund zur Wehr setzte, gestand er: «Es ist sehr schwierig, den Menschen ganz abzulegen.»
Montaigne liebte diese Geschichten, in denen Pyrrhon einerseits radikal vom normalen Verhalten abwich und andererseits zeigte, dass auch er nur ein Mensch war. Und wie ein echter Skeptiker versuchte Montaigne, sich auch in Bezug auf Pyrrhon eines Urteils zu enthalten. Allerdings neigte er eher dazu, ihn als ganz normalen Menschen zu betrachten, wie er selbst einer war. Ein Mensch allerdings, der danach strebte, einen klaren Blick zu gewinnen und nichts als selbstverständlich hinzunehmen.
Er wollte sich keineswegs zum fühllosen Klotz oder Stein machen, sondern zu einem lebendigen Menschen, der hin und her überlegt und nachdenkt, der sämtliche natürlichen Annehmlichkeiten und Freuden genießt, der all seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten betätigt.
Montaignes Medaille mit dem Wahlspruch EPECHO, «Ich enthalte mich (des Urteils)»
Montaigne zufolge verzichtete Pyrrhon lediglich auf den Anspruch, «die Wahrheit festzulegen, zu reglementieren und zu schulmeistern» — ein Anspruch, dem die meisten Menschen erliegen. Das war es, was Montaigne an der skeptischen Tradition wirklich interessierte: weniger ihr extremer Ansatz gegenüber Schmerz und Leid (hier zog er die Stoiker und Epikureer vor, die dem realen Leben mehr verbunden waren), sondern das Bestreben, alles als vorläufig und fragwürdig zu betrachten. Das hatte er selbst immer wieder eingeübt. Um dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, ließ er sich im Jahr 1576 Medaillen mit Sextus’ magischem Wahlspruch epoché (hier epecho geschrieben), seinem eigenen Familienwappen und einer zweischaligen Waage prägen. Die Waagschalen sind gleichfalls ein pyrrhonisches Symbol, die mahnten, stets das Gleichgewicht zu wahren und die Dinge abzuwägen, statt einfach hinzunehmen.
Die Symbole, die er verwendete, waren ungewöhnlich, doch es entsprach der damaligen Mode, sich persönliche Wahlsprüche auf Medaillen (jetons) prägen zu lassen. Das diente als Gedächtnisstütze (aide-mémoire) und Ausweis von Identität. Wäre Montaigne Anfang des 21. Jahrhunderts ein junger Mann gewesen, hätte er sich wahrscheinlich ein Tattoo stechen lassen.
Wenn die Medaille ihm tatsächlich seine Grundprinzipien in Erinnerung rufen sollte, so erfüllte sie ihren Zweck. Die Essais sind gespickt mit Relativierungen wie «vielleicht», «gewissermaßen», «ein wenig», «man sagt». Sie sollen, wie Montaigne selbst erklärt, «die Unbesonnenheit unsrer Behauptungen mildern und mäßigen», und sie bringen das zum Ausdruck, was Hugo Friedrich Montaignes Philosophie der «Bescheidung» nannte. Die Essais sind keine überspannten Schnörkeleien, sie enthalten Montaignes Denken in Reinform. Er wurde dieses Denkens nie müde, er wurde es nie überdrüssig, über die Vergangenheit nachzusinnen, über die Millionen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gelebt hatten, und sich klarzumachen, dass es unmöglich ist, die Wahrheit über sie in Erfahrung zu bringen. «Auch wenn all das, was an Berichten über die Vergangenheit bis zu uns gelangt ist, wahr wäre, und auch wenn einer all dies wüsste, würde es doch im Vergleich zu dem, was keiner weiß, weniger als nichts sein», schrieb er. «Wie kümmerlich und verkürzt» sei doch unser Wissen von Menschen und Geschehnissen und wie unermesslich groß demgegenüber die Welt. Um noch einmal Hugo Friedrich zu zitieren, hatte Montaigne ein tiefes Bedürfnis, «sich durch das Einmalige, das nicht Rubrizierbare, das Rätselhafte» überraschen zu lassen.
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