Und von allem Rätselhaften erstaunte ihn niemand mehr als er selbst, das unergründlichste Phänomen überhaupt. Unendlich oft ertappte er sich dabei, wie seine Ansichten von einem Extrem ins andere umschlugen und wie er binnen Sekunden von einer Emotion zu einer anderen wechselte.
Ich stehe auf so unsichren und wackligen Füßen, ich gerate so leicht ins Wanken und Schwanken und sehe die Dinge in so wechselhaftem Licht, dass ich mich nüchtern als einen andern empfinde denn nach dem Essen. Wenn meine Gesundheit mir lacht oder ein schöner Tag mit seiner Heiterkeit, wie gut bin ich da zu haben! Kaum drückt mich aber ein Hühnerauge, und schon bin ich unfreundlich, mürrisch und nicht mehr ansprechbar.
Selbst auf seine simpelsten Wahrnehmungen war kein Verlass. Wenn er an Fieber litt oder eine Arznei eingenommen hatte, schmeckte alles anders oder erschien in einem anderen Licht. Schon eine leichte Erkältung vernebelte ihm den Geist. Demenz ließe den Verstand ganz abstumpfen. Selbst Sokrates würde durch einen Schlaganfall oder einen Gehirnschaden zum Idioten werden, meinte Montaigne, und bisse ihn ein tollwütiger Hund, würde er nur noch Unsinn faseln, «da Gift alle Philosophie, sobald eingekörpert, in rasenden Irrsinn zu treiben vermag». Genau das ist der Punkt: Für Montaigne ist Philosophie tatsächlich dem Körper verhaftet. Sie lebt in individuellen, fehlbaren Menschen, und damit ist sie selbst voller Ungewissheiten. «Diese Saite haben die Philosophen, scheint mir, kaum je angeschlagen.»
Und wie steht es mit den Sinneswahrnehmungen anderer Spezies? Wie vor ihm schon Sextus vermutete auch Montaigne zu Recht, dass andere Lebewesen die Farben anders wahrnehmen als der Mensch. Vielleicht sehen wir und nicht sie die Dinge «falsch»? Wir haben keine Möglichkeit, herauszufinden, wie Farben wirklich sind. Tiere haben Fähigkeiten, die beim Menschen nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden sind, und vielleicht sind einige dieser Fähigkeiten wichtig, um die Welt vollständig zu begreifen. «Wir haben, indem wir unsre fünf Sinne rundum zu Rate zogen, uns eine Wahrheit gebildet; vielleicht aber brauchten wir, um sie sicher und in ihrem Wesen zu erkennen, die Mit- und Zusammenwirkung von deren acht oder zehn.»
Diese scheinbar beiläufige Bemerkung enthält einen schockierenden Gedanken: dass wir aufgrund unserer Natur nicht in der Lage sind, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Die menschliche Perspektive ist womöglich nicht nur gelegentlich anfällig für fehlerhafte Wahrnehmungen, sondern ist per definitionem beschränkt, und zwar in derselben Weise, wie wir in der Regel (und überheblich, wie wir sind) die Intelligenz eines Hundes beurteilen. Nur ein Mensch mit der ungewöhnlichen Fähigkeit, aus sich herauszutreten, ist zu einem solchen Gedanken in der Lage, und genau das gelang Montaigne. Er konnte gleichsam neben sich treten und sich selbst mit der Maßgabe des pyrrhonischen Urteilsverzichts betrachten. So weit waren selbst die frühen Skeptiker nicht gegangen. Sie zweifelten an allem, doch sie bedachten nicht, wie sehr ihr eigenes Inneres von dieser allgemeinen Unsicherheit betroffen war. Montaigne dagegen war sich dessen stets bewusst:
Samt Verstand rollen und fließen wir wie alle sterblichen Wesen ohne Unterlass dahin. So lässt sich nichts Sicheres von einem aufs andere schließen, befinden sich Urteilender wie Beurteiltes doch in fortwährendem Wechsel und Wandel.
Das klingt wie eine Sackgasse: als würde man jede Möglichkeit ausschließen, überhaupt etwas erkennen zu können, da es keinen Maßstab gibt, die Dinge miteinander zu vergleichen. Aber dies Wissen um die fortwährende Veränderung kann auch neue Perspektiven eröffnen. Das Leben wird komplexer und interessanter, die Welt zu einer mehrdimensionalen Landschaft, in der jeder Standpunkt in Betracht gezogen werden muss. Diese Tatsache haben wir uns vor Augen zu halten, um «wenigstens durch Schaden klug» zu werden, wie Montaigne es formulierte.
Selbst für ihn war die disziplinierte Aufmerksamkeit für den jeweiligen Augenblick eine ständige Anstrengung. «Man muss das Bewusstsein der Seele erheblich schärfen, auf dass sie merke, wie sie dahinschwindet.» Die Essais halfen ihm dabei. Er spielte selbst Versuchskaninchen und stellte sich mit dem Notizblock in der Hand gleichsam neben sich. Er freute sich über jede Absonderlichkeit, die er an sich beobachtete, sogar über seine Vergesslichkeit, denn sie erinnerte ihn an seine Unzulänglichkeit und bewahrte ihn vor Rechthaberei. Von dieser Maxime «Stelle alles in Frage!» gab es nur eine Ausnahme: Er bestand stets darauf, dass sein religiöser Glaube über jeden Zweifel erhaben sei. Er war gehorsam gegenüber den Dogmen der katholischen Kirche — und Schluss.
Den modernen Leser mag das überraschen. Skeptizismus und institutionalisierte Religion gelten als krasse Gegensätze: Wissenschaft und Vernunft auf der einen, Glaube und Autoritätshörigkeit auf der anderen Seite. Zu Montaignes Lebzeiten wurden die Linien anders gezogen. Die Naturwissenschaft im heutigen Sinn existierte noch nicht, und der menschliche Verstand wurde nur selten als von Gott losgelöst betrachtet. Die Vorstellung, dass der menschliche Verstand von sich aus erkenntnisfähig sei, war genau das, was die Skeptiker bezweifelten. Und da die Kirche zu jener Zeit den Glauben über die «rationale Theologie» stellte, betrachtete sie den Pyrrhonismus als ihren Verbündeten. Der pyrrhonische Zweifel stellte die menschliche Vernunft in Frage und war damit ein nützliches Werkzeug gegen den Protestantismus, der die Gewissensverantwortung des Einzelnen betonte und ihr einen Vorrang gegenüber dem Dogma einräumte.
Aus diesem Grund befürwortete der Katholizismus den Pyrrhonismus über Jahrzehnte hinweg und hielt Bücher wie Henri Estiennes Sextus-Übersetzung und Montaignes Essais für wertvolle Instrumente im Kampf gegen die Häresie. Montaigne unterstützte dieses Bestreben mit seinem Angriff auf die Hybris der menschlichen Vernunft und mit zahlreichen Bekundungen des Fideismus, die in den Essais verstreut sind. Der Glaube, meinte er, müsse unser Inneres durch «eine außergewöhnliche Eingebung» von Gott ergreifen, nicht durch eigene Anstrengungen. Gott liefert gewissermaßen den Teebeutel, wir müssen ihn nur noch mit Wasser aufgießen. Und wenn wir diese Eingebung nicht direkt erhalten, müssen wir uns nur der Kirche überlassen, als eine Art Samowar für die Massen, die den fertigen Glaubensaufguss liefert. Montaigne ließ keinen Zweifel daran, dass er die Oberhoheit der Kirche in religiösen Fragen anerkannte, auch auf die Gefahr hin, dass sie seine Gedanken überwachte. Zu einer Zeit, da alle sich auf das Neue stürzten, schrieb er, habe ihn oft der fraglose Gehorsam gerettet:
Ich halte mich an die Verfassung, die er, Gott, mir zuwies — sonst würde ich unweigerlich endlos hin und her rollen. So aber vermochte ich dank der Gnade Gottes ruhigen und unbeirrten Gewissens den alten Glaubenssätzen unsrer Religion durch all die sektiererischen Spaltungen hindurch völlig treu zu bleiben, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat.
Es ist schwer zu sagen, ob die Unbeirrtheit, von der er hier spricht, spiritueller Art war oder ob er mehr an die Unannehmlichkeiten dachte, die damit verbunden waren, wenn man ihn als Häretiker bezeichnet hätte und wenn seine Bücher verbrannt worden wären. Der Fideismus konnte ein praktisches Deckmäntelchen für den heimlichen Unglauben sein. Nachdem man Gott Tribut gezollt und sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität gewappnet hatte, konnte man so irreligiös sein, wie man wollte. Welchen Vorwurf konnte man gegen jemanden erheben, der die Unterwerfung unter den Willen Gottes und die Lehren der Kirche propagierte? Doch schließlich erkannte die Kirche diese Gefahr, und im nachfolgenden Jahrhundert geriet der Fideismus in Misskredit. Vorerst aber konnte jeder diesen Weg ungestraft einschlagen. Gehörte Montaigne in diese Kategorie?
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