Auch wenn er sich in den praktischen Dingen des Lebens nicht bewandert fühlte, kannte er seine Stärken, wenn es um Literatur und Gelehrsamkeit ging. Pierres literarische Kenntnisse waren so beschränkt gewesen, wie seine Liebe zu Büchern grenzenlos war. Nach Montaignes Ansicht war es typisch für die Generation seines Vaters, Bücher zu Kultobjekten zu stilisieren und gelehrte Männer «in seinem Haus wie Heilige» zu empfangen und «ihre Sentenzen und Darlegungen» aufzunehmen, «als wären es Orakelsprüche». Trotzdem bewies Pierre nur ein geringes kritisches Verständnis. Er konnte sich mit nur einem Daumen überm Tisch drehen, aber eine intellektuelle Leuchte war er nicht. Er verehrte Bücher, ohne sie zu verstehen. Sein Sohn bemühte sich lebenslang um das Gegenteil.
Montaigne sah in Pierres Bücherliebe zu Recht ein typisches Merkmal der Vätergeneration. Französische Adlige des frühen 16. Jahrhunderts begeisterten sich für die Gelehrsamkeit und für alles, was aus Italien kam. Dabei übersah der Sohn jedoch, dass er selbst typisch für seine Zeit war, wenn er den Fetisch der Buchgelehrsamkeit ablehnte. Die Väter stopften ihre Söhne mit Literatur und Geschichte voll, bildeten ihr kritisches Denken aus und brachten ihnen bei, mit den klassischen philosophischen Schulen wie mit Bällen zu jonglieren. Zum Dank verwarfen die Söhne all das als wertlos und dünkten sich überlegen. Einige versuchten sogar, eine ältere, der Gelehrsamkeit feindliche Tradition wiederzubeleben, als wäre es etwas radikal Neues.
In Montaignes Generation zeigten sich Ermüdung und Verdrießlichkeit, gleichzeitig aber eine rebellische neue Kreativität. Verständlich ist daher auch ein Hang zum Zynismus: Die Ideale, in deren Geist man sie erzogen hatte, hielten der grausamen Wirklichkeit nicht stand. Die Reformation, anfänglich als frischer Wind willkommen geheißen, der auch der römischen Kirche guttun würde, führte zu einem blutigen Krieg, der die zivilisierte Welt zu zerstören drohte. Ideale der Renaissance wie Schönheit und Anmut, Klarheit und Klugheit pervertierten zu Gewalt, Grausamkeit und religiösem Extremismus. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der Montaigne lebte, war für Frankreich so verheerend, dass das Land ein weiteres halbes Jahrhundert brauchte, um sich davon zu erholen — und in gewisser Hinsicht erholte es sich gar nicht mehr, denn die Wirren des späten 16. Jahrhunderts verhinderten den Aufbau eines mächtigen Weltreichs analog zu England und Spanien. Als Montaigne starb, war Frankreich wirtschaftlich geschwächt und wurde von Seuchen, Hungersnöten und politischen Wirren heimgesucht. Kein Wunder, dass junge Adlige seiner Generation zu hochgebildeten Misanthropen wurden.
Auch Montaigne war nicht frei von dieser antiintellektuellen Grundeinstellung. Er wuchs in dem Gefühl auf, die einzige Hoffnung für die Menschheit sei die Rückkehr zur Einfachheit und zur Unwissenheit der Bauern. Sie seien die wahren Philosophen der modernen Welt, die Erben der antiken Weisen Seneca und Sokrates. Nur sie seien bewandert in der Kunst des Lebens, gerade weil sie von anderen Dingen nicht viel wussten. Insofern wandte sich auch Montaigne dem Kult der Unwissenheit zu: ein Schlag ins Gesicht seines Vaters.
Aber nichts wiederholt sich. Und niemand unterschied sich von den mittelalterlichen Adligen mehr als Montaigne mit seinen Versuchen, seinen Wagnissen und seinen Fragezeichen am Ende eines jeden Abschnitts, den er zu Papier brachte. Mit dem impliziten oder expliziten Zusatz «obwohl ich nicht weiß …» am Ende fast jedes seiner Gedanken war er von den alten Sicherheiten sehr weit entfernt. Doch die väterlichen Ideale lebten in ihm weiter, wenn auch gemildert, eingetrübt und ohne das Gefühl absoluter Gewissheit.
Das Experiment
Vielleicht lag diese Entschlossenheit, vermeintliche Gewissheiten und Vorurteile in Frage zu stellen, bei Montaigne in der Familie. In einer Zeit der konfessionellen Spaltungen waren die Eyquems bekannt — Montaigne sagte: «berühmt» — für ihre «brüderliche Eintracht». Die meisten in seiner Familie blieben katholisch, einige traten zum Protestantismus über, ohne dass es in der Folge zu großen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Als ein junges protestantisches Mitglied der Familie Eyquem extremistische Anwandlungen an den Tag legte, riet ihm La Boétie, sich zu mäßigen «aus Achtung vor dem guten Ruf, den Euer Haus durch eine ununterbrochene Eintracht erworben hat — ein Haus, das ich so teuer halte wie irgendein Haus in der Welt (mein Gott, welches Haus, aus dem nur die Handlung eines Biedermannes hervorgegangen ist!)».
Diese bewundernswerte Sippe war weit verzweigt. Montaigne hatte sieben Brüder und Schwestern, allesamt jünger als er, nicht mitgerechnet die beiden vor ihm geborenen, die früh starben. Der Altersunterschied zwischen den Geschwistern war beträchtlich. Er betrug beinahe eine ganze Generation, denn Montaigne war fast siebenundzwanzig Jahre alt, als sein jüngster Bruder Bertrand zur Welt kam.
Soweit wir wissen, wurde keinem der anderen Geschwister so viel Aufmerksamkeit oder eine so außergewöhnliche Erziehung zuteil wie dem kleinen Micheau. Die Töchter erhielten wohl die für Frauen übliche Bildung, also so gut wie keine. Und selbst die anderen Söhne wurden, so scheint es, konventioneller erzogen. Das einzige Kind der Familie, dessen Erziehung gut dokumentiert ist, war Michel de Montaigne — und er wurde nicht einfach nur erzogen. Er war das Objekt eines beispiellosen pädagogischen Experiments.
Es begann bereits direkt nach seiner Geburt, als Micheau zu einer einfachen Bauernfamilie ins Nachbardorf in Pflege gegeben wurde. Eine Bäuerin als Amme zu nehmen war damals nichts Ungewöhnliches, aber Montaignes Vater wollte, dass sein Sohn die Gepflogenheiten der einfachen Leute gleichsam mit der Muttermilch aufnahm, und deshalb wuchs Montaigne bei den Leuten auf, die der Hilfe eines seigneur am meisten bedurften. Statt dass die Amme zu dem Säugling kam, schickte sein Vater den Säugling zur Amme, wo er blieb, bis er der Muttermilch entwöhnt war. Er wurde auch von «Leuten des niedrigsten Standes» aus der Taufe gehoben. Von Anfang an hatte Montaigne das Gefühl, ein Bauernkind unter Bauern und gleichzeitig etwas ganz Besonderes zu sein. Dieses Gefühl verließ ihn sein Leben lang nicht mehr. Er hielt sich für einen ganz gewöhnlichen Menschen, und gerade das machte seine Außergewöhnlichkeit aus.
Die Idee mit der bäuerlichen Pflegefamilie hatte jedoch einen Nachteil, den Pierre wahrscheinlich nicht bedacht hatte. Da sein Sohn unter fremden Leuten aufwuchs, konnte er, wie wir heute sagen, keine «Bindung» an seine Eltern entwickeln. Das galt in gewisser Weise für alle Kinder, die von einer Amme gestillt wurden, aber sie blieben in der Regel die meiste Zeit bei ihrer Mutter. Bei Montaigne war dies offenbar anders. Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun: «Überlasst es dem Schicksal, sie nach den natürlichen und landläufigen Gesetzen heranzubilden.»
Wie alt auch immer er war, als er ins väterliche Schloss zurückkehrte — ein, zwei Jahre vielleicht —, er wurde seiner Pflegefamilie abrupt wieder entrissen, denn der zweite Teil seiner experimentellen Erziehung war das krasse Gegenteil des ersten. Der kleine, bäuerlich geprägte Micheau wurde von nun an in der lateinischen Sprache erzogen.
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