Die Kriege in Oberitalien mögen unerquicklich gewesen sein, in kultureller Hinsicht waren sie für die Franzosen durchaus nutzbringend. In den Zeiten zwischen den Belagerungen lernten sie neue und aufregende wissenschaftliche, politische, philosophische und pädagogische Ideen, Sitten und Gebräuche kennen. Die italienische Hochrenaissance war zu Ende, doch Italien repräsentierte nach wie vor die weitaus fortschrittlichste Kultur Europas. Französische Soldaten wurden mit innovativen Ideen in fast allen Bereichen vertraut und brachten ihre Erkenntnisse und Entdeckungen nach Hause zurück. Pierre zählte ganz gewiss zu diesen neuen italianisierten französischen Adligen, die unter dem Eindruck ihrer Reisen und dem Einfluss ihres charismatischen, für modernes Gedankengut aufgeschlossenen Königs Franz I. standen. Nachfolgende Könige gaben die Ideale der Renaissance auf, die Franz I. hochgehalten hatte, und in den Bürgerkriegen ging der Zukunftsglaube vollends verloren. Doch in Pierres Jugend lag diese Desillusionierung noch weit entfernt, die Ideale waren immer noch aufregend neu.
Abgesehen von seiner soldatischen Grundeinstellung war Pierre seinem Sohn sehr ähnlich. Montaigne beschreibt ihn als einen «kleinwüchsigen Mann, höchst kraftvoll und von aufrechter, wohlgeformter Statur» mit «angenehmen Gesichtszügen, ins Bräunliche gehendem Teint». Er war körperlich fit und hielt sich gelenkig, trainierte seine Muskeln mit Stäben, die mit Blei ausgegossen waren, und trug bleibesohlte Schuhe, um seine Beine beim Laufen und Springen zu kräftigen. Dies war eine besondere Begabung seines Vaters. «Im Hochsprung aus dem Stand vollbrachte er, wie sich die Leute noch erinnern, kleine Wunder», schrieb Montaigne. «Ich sah ihn, wie er, unsere Gelenkigkeitsübungen belächelnd, mit mehr als sechzig Jahren im Pelzmantel aufs Pferd sprang oder, nur vom Daumen gestützt, sich überm Tisch drehte — und kaum je in sein Zimmer hinaufeilte, ohne voller Elan drei, vier Stufen auf einmal zu nehmen.»
Sein Vater verfügte noch über andere Qualitäten, die für die Generation Montaignes nicht mehr typisch waren. Er achtete auf untadeliges Aussehen und Kleidung und war «durchgängig von skrupulöser, fast zur Übertreibung neigender Gewissenhaftigkeit». Seine sportliche Begabung und sein galantes Auftreten machten ihn beim weiblichen Geschlecht beliebt. Montaigne beschreibt ihn als einen, der «für den Umgang mit den Damen von Natur aus wie durch seine Lebenskunst die besten Voraussetzungen mitbrachte». Wahrscheinlich sprang er über Tische, um die weibliche Gesellschaft zu unterhalten. Was sexuelle Eskapaden betrifft, so übermittelte Pierre seinem Sohn widersprüchliche Botschaften. Einerseits erzählte er «von erstaunlich intimen, doch über jeden Verdacht erhabnen (und namentlich den eignen) Beziehungen zu ehrbaren Damen». Andererseits schwur er «heilige Eide, dass er selber unberührt in den Ehestand getreten sei». Montaigne schien dies nicht zu glauben, da der Vater «lange Zeit Teilnehmer an den Kriegen jenseits der Alpen» gewesen sei.
Nach seiner Rückkehr aus Italien und seiner Heirat begann Pierre eine politische Karriere in Bordeaux. 1530 wurde er zum Schöffen (jurat) und zum Chef des Ordnungswesens (prévôt) gewählt, 1537 wurde er Vizebürgermeister und 1554 schließlich Bürgermeister. Es waren schwierige Zeiten für Bordeaux: Die Einführung einer neuen Salzsteuer 1548 beschwor einen Aufstand herauf, den «Frankreich» dadurch bestrafte, dass es der Stadt viele Privilegien entzog. Als Bürgermeister tat Pierre, was er konnte, um die Geschicke der Stadt in die richtigen Bahnen zu lenken, aber seine Stadtrechte gewann Bordeaux nur langsam zurück. Die Anstrengung schadete Pierres Gesundheit. So, wie die Geschichten über Kriegsgräuel Montaigne vom Soldatenleben abschreckten, so bestärkte ihn die Erschöpfung seines Vaters, ein wenig mehr Distanz zu seinem Amt zu wahren, als er dreißig Jahre später selbst Bürgermeister von Bordeaux wurde.
Pierre hatte einige brillante Ideen, zum Beispiel wollte er eine Art eBay des 16. Jahrhunderts schaffen. Er hätte gern veranlasst, dass in den Städten Börsen eingerichtet wurden, wo jeder kaufen und verkaufen konnte, was er wollte: «Zum Beispiel: ‹Ich suche Perlen zu verkaufen› oder ‹Ich suche Perlen zu kaufen›. Der und der möchte eine Reisebegleitung nach Paris; der und der hält nach einem Diener mit den und den Eigenschaften Ausschau, der und der nach einem Dienstherrn, der und der nach einem Arbeiter; der eine sucht dies, der andre das, jeder nach seinem Bedarf.» Ein sinnvoller Vorschlag, aus dem jedoch nichts wurde.
Er führte auch Buch über alle Geschehnisse und Vorfälle auf dem Gut und hielt das Kommen und Gehen der Dienerschaft fest sowie alle möglichen finanziellen und landwirtschaftlichen Daten. Seinen Sohn ermunterte er, diese Eintragungen fortzuführen. Montaigne begann damit nach Pierres Tod und stellte seine guten Absichten unter Beweis, aber er gab es bald wieder auf. Nur Fragmente seiner Aufzeichnungen sind erhalten. «Was bin ich doch für ein Trottel, es versäumt zu haben», heißt es in den Essais . Eine andere, gleichfalls von seinem Vater begonnene Art der Dokumentation behielt er jedoch bei: Er führte einen vorgedruckten Kalender in Buchform, die Ephemeris historica des deutschen Gelehrten Michael Beuther, kurz «Beuther» genannt. Dieser Kalender ist bis auf ein paar Seiten nahezu vollständig erhalten und enthält Aufzeichnungen Montaignes und seiner Angehörigen. Jeder Tag des Jahres hat eine eigene Seite mit einer gedruckten Zusammenfassung wichtiger historischer Ereignisse und mit Platz für persönliche Einträge. Montaigne notierte Geburten, Reisen und wichtige Besuche. Er führte dieses Buch konsequent, brachte aber oft Daten, Altersangaben und andere Informationen durcheinander.
Trotz der Klagen seiner Frau liebte Pierre offenkundig schwere Arbeit aller Art nicht weniger als den Ausbau des Anwesens. Vielleicht war sie verärgert, dass er das Geld in die Verbesserung des bereits Bestehenden investierte statt in den Erwerb neuer Ländereien und dass er zwar vieles in Angriff nahm, aber wenig vollendete. Dass Pierre die Idee mit der Kaufbörse aufgab, stand wohl mehr im Einklang mit seinem Charakter, als es scheint. Bei seinem Tod erbte Montaigne eine Menge halbfertiger Projekte, die zu vollenden er sich vornahm. Liegengebliebene Arbeiten sind etwas Entsetzliches, und sie einfach liegen zu lassen war wohl Pierres Art und Weise, damit umzugehen, so wie es Antoinettes Art und Weise war, sich lautstark darüber zu empören.
Manches Halbfertige ist wohl Pierres schwindenden körperlichen Kräften geschuldet, denn seit seinem sechsundsechzigsten Lebensjahr litt er an kräftezehrenden Nierenkoliken. Montaigne erlebte seinen Vater in den letzten Lebensjahren oft vor Schmerzen zusammengekrümmt. Er vergaß nie den Schock, als er Zeuge des ersten derartigen Anfalls wurde: Pierre verlor vor Schmerzen das Bewusstsein und sank in die Arme seines Sohnes. Wahrscheinlich verursachte ein solcher Anfall letztlich auch seinen Tod. Er starb am 18. Juni 1568 im Alter von vierundsiebzig Jahren. Zu dem Zeitpunkt hatte Pierre sein erstes Testament geändert und Montaigne die Aufgabe übertragen, sich um seine jüngeren Brüder und Schwestern zu kümmern und ihnen den Vater zu ersetzen. «Er muss meinen Platz einnehmen und mich bei ihnen ersetzen», heißt es in seinem Testament. Montaigne trat an die Stelle seines Vaters, was er nicht immer als einfache Aufgabe empfand.
In den Essais erscheint er als dessen krasses Gegenbild. Dem Lob des Vaters folgt häufig die Aufzählung seiner eigenen negativen Eigenschaften. Er beschreibt, wie Pierre das Anwesen ausbaute, und zeichnet dann ein fast karikaturhaftes Bild seiner eigenen Defizite, seines Desinteresses und Unvermögens. «Wenn ich mich darangemacht habe, ein altes Stück Mauer hochziehn oder einen schlecht ausgeführten Gebäudeteil in Ordnung bringen zu lassen, dann gewiss mehr seinem Willen als meinem Wunsch zuliebe», schreibt er. Wie Nietzsche es sehr viel später formulierte: «Man muss den Fleiß seines Vaters nicht überbieten — das macht krank.» Montaigne unternahm diesen Versuch erst gar nicht und blieb gesund.
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