Erich Maria Remarque - Die Nacht von Lissabon

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Ich tat es sofort. Dieselbe Frauenstimme war wieder am Apparat. „Hier ist Georg Jürgens", erklärte ich scharf. „Doktor Martens bitte."

„Sind Sie der Herr, der vorhin angerufen hat?"

„Hier ist Sturmbannführer Jürgens. Ich möchte Doktor Martens sprechen. Sofort!"

„Ja", sagte die Frau. „Einen Augenblick! Gleich!"

Schwarz sah mich an. „Kennen Sie das entsetzliche leise Rauschen im Hörer, wenn man am Telephon auf sein Leben wartet?"

Ich nickte. „Es braucht nicht einmal das Leben zu sein, auf das man wartet. Es kann auch das Nichts sein, das man zu beschwören sucht."

„Hier ist Doktor Martens, hörte ich endlich", sagte Schwarz. „Ich spürte wieder einen der Zustände, über die ich früher gelacht hätte. Meine Kehle war trocken.

„Rudolf, flüsterte ich schließlich.

„Wie bitte?"

„Rudolf, sagte ich. „Hier ist ein Verwandter von Helen Jürgens."

„Ich verstehe nicht. Ist dort nicht Sturmbannführer Jürgens?"

„Ich rufe für ihn an, Rudolf. Für Helen Jürgens. Verstehst du jetzt?"

„Ich verstehe durchaus nicht", sagte der Mann am anderen Ende irritiert. „Ich bin in der Sprechstunde..."

„Kann ich zu dir in die Sprechstunde kommen, Rudolf? Bist du sehr besetzt?"

„Ich muß Sie doch bitten! Ich kenne Sie nicht, und Sie..."

„Old Shatterhand", sagte ich.

Mir war endlich eingefallen, wie wir uns als Jungen genannt hatten, wenn wir Indianer gespielt hatten. Es waren Namen aus den Romanen Karl Mays. Wir hatten die Bücher als Zwölfjährige verschlungen. Ich hörte einen Augenblick nichts. Dann sagte Martens leise: „Was?"

„Winnetou", erwiderte ich. „Hast du die alten Namen vergessen? Es sind doch die Lieblingsbücher des Führers."

„Richtig", sagte er. Es war bekannt, daß der Mann, der den zweiten Weltkrieg begonnen hat, als Lektüre in seinem Schlafzimmer die dreißig oder mehr Bände eines Schriftstellers über Indianer, Trapper und Jäger stehen hatte, die man als Junge von fünfzehn Jahren bereits als leicht lächerlich zu empfinden begonnen hatte.

„Winnetou?" wiederholte Martens mit ungläubiger Stimme.

„Ja. Ich muß dich sehen." „Ich verstehe das nicht. Wo sind Sie?" „Hier. In Osnabrück. Wo können wir uns sehen?" „Ich bin in der Sprechstunde", erklärte Martens mechanisch.

„Ich bin krank. Ich kann in die Sprechstunde kommen."

„Ich verstehe das alles nicht", sagte Martens mit einer Stimme, die einen Entschluß anzeigte. „Wenn Sie krank sind, kommen Sie doch in die Sprechstunde. Wozu extra telephonieren?"

„Wann?"

„Am besten um sieben Uhr dreißig. Um sieben Uhr dreißig", wiederholte er. „Nicht früher!"

„Gut, um sieben Uhr dreißig."

Ich legte den Hörer hin. Ich war wieder naß von Schweiß. Langsam ging ich zum Ausgang. Draußen war ein blasser halber Mond zwischen den Wolken für Augenblicke sichtbar. In knapp einer Woche wird Neumond sein, dachte ich. Eine gute Zeit, die Grenze zu kreuzen. Ich sah auf die Uhr. Es war noch eine dreiviertel Stunde Zeit. Ich mußte vom Bahnhof weg. Es war immer verdächtig, wenn man dort zu lange herumlungerte. Ich ging die Straße hinunter, die am dunkelsten und am wenigsten belebt war. Sie führte zu den alten Wällen der Stadt. Ein Teil war planiert und mit hohen Bäumen bewachsen; ein anderer Teil war so wie früher geblieben und führte am Fluß entlang. Ich folgte ihm, über einen Platz, an der Herz-Jesu-Kirche vorbei.

Vom oberen Wall konnte man über den Fluß hinweg die Dächer und Türme der Stadt sehen. Die barocke Kuppel des Domes schimmerte im unruhigen Licht. Ich kannte diesen Blick; er war auf tausend Postkarten reproduziert. Ich kannte auch den Geruch des Wassers und den Geruch der Lindenallee, die sich den Wall entlangzog.

Ich sah, daß Liebespaare auf den Bänken saßen, die zwischen den Bäumen so aufgestellt waren, daß man den Blick auf den Fluß und die Stadt hatte, und setzte mich auf eine leere Bank, um die halbe Stunde abzuwarten, bevor ich zu Martens gehen konnte.

Die Glocken des Domes begannen zu läuten. Ich war so erregt, daß ich die Schwingungen körperlich spürte, als wären sie die Folge eines unsichtbaren Tennisspiels zwischen zwei Spielern, die sich die Schwingungen zuwarfen. Ein Spieler war das alte Ich, das ich kannte und das erschauerte und Furcht hatte und nicht nachzudenken wagte über seine Situation — und das andere, das neue, das nicht nachdenken wollte und kühn war und sich selbst riskierte, als könne es gar nichts anderes geben — eine merkwürdige Schizophrenie, bei der noch ein Dritter als Zuschauer dabei war, unparteiisch wie ein Schiedsrichter, passiv, aber mit dem Wunsch, daß das neue Ich gewinnen möge.

Ich erinnere mich genau an diese halbe Stunde. Ich erinnere mich sogar daran, daß ich erstaunt war, mich selbst so klinisch zu spüren. Es war, als stünde ich in einem Raum, in dem Spiegel sich gegenüber an den Wänden hingen; sie warfen sich mein Bild bis in eine leere Unendlichkeit zu, und hinter jedem Spiegelbild konnte ich ein anderes entdecken, das dem ersten über die Schulter sah. Mir schien, als wären es alle, dunkel gewordene Spiegel, und ich konnte nicht sehen, ob der Ausdruck fragend, traurig oder voll Hoffnung war. Sie verdämmerten alle in silbrigem Dunkel.

Eine Frau setzte sich neben mich. Ich wußte nicht, was sie wollte, und es war mir unbekannt, ob das Regime der Barbaren nicht längst auch diese Dinge schon zu militärischen Übungen degradiert halte. Ich erhob mich deshalb und ging. Ich hörte die Frau hinter mir lachen und habe es nie vergessen — das leise, etwas verächtliche und mitleidige Lachen dieser unbekannten Frau am Herrenteichswali in Osnabrück."

4

„Das Wartezimmer war leer. Pflanzen mit langen, ledrigen Blättern standen auf einer Etagere am Fenster. Auf dem Tisch lagen Magazine, deren Titelblätter Bonzen des Regimes, Soldaten und eine Abteilung Hitlerjugend beim Marsch zeigten. Dann hörte ich rasche Schritte. Martens stand in der Tür. Er starrte mich an, nahm die Brille ab und blinzelte. Das Licht im Wartezimmer war schwach. Er erkannte mich nicht sofort, wahrscheinlich wegen des Schnurrbartes.

„Ich bin es, Rudolf, sagte ich. „Josef."

Er hob die Hand, ich solle schweigen. „Wo kommst du her?" flüsterte er.

Ich hob die Schultern. Wozu war das wichtig? „Ich bin hier", sagte ich. „Du mußt mir helfen."

Er blickte mich an. Seine kurzsichtigen Augen in dem schwachen Licht wirkten wie die eines Fisches hinter einem dicken Aquariumglas. „Hast du Erlaubnis, hier zu sein?"

„Nur von mir selbst."

„Wie bist du über die Grenze gekommen?"

„Das ist doch gleichgültig. Ich bin hierhergekommen, um Helen zu sehen."

Et starrte mich an. „Dazu bist du gekommen?" „Ja", sagte ich.

Ich fühlte mich plötzlich ruhig. Ich war es nicht gewesen, solange ich allein war. Jetzt war auf einmal alle Erregung geschwunden, weil ich überlegte, wie ich den überraschten Menschen vor mir beruhigen konnte.

„Dazu?" fragte er noch einmal.

„Ja, dazu. Und du mußt mir helfen."

„Mein Gott!" sagte er.

„Ist sie tot?" fragte ich.

„Nein, sie ist nicht tot."

„Ist sie hier?"

„Ja. Sie war hier. Wenigstens noch vor einer Woche."

„Können wir hier sprechen?" fragte ich.

Martens nickte. „Ich habe die Empfangsschwester weggeschickt. Wenn Patienten kommen, kann ich sie auch wegschicken. Ich kann dich nicht in meine Wohnung nehmen. Ich habe geheiratet. Vor zwei Jahren. Du verstehst..."

Ich verstand. Man konnte seit langem im Tausendjährigen Reich auch seinen Verwandten nicht mehr trauen. Denunziationen wurden täglich von den Rettern Deutschlands als nationale Tugend herausgeschrien. Ich kannte das selbst. Der Bruder meiner Frau haue mich denunziert.

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