Erich Maria Remarque - Die Nacht von Lissabon
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Als ich auf den Bahnhofsplatz trat, fiel alles, was ich vorher gedacht hatte, von mir ab. Es war dämmerig und feucht wie nach einem Regen, ich sah keine Landschaft mehr, alles in mir bebte auf einmal, und ich wußte, daß ich von jetzt an in großer Gefahr war. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mir könne nichts passieren. Es war, als stünde ich unter einer Glasglocke, die mich zwar schützte, aber jeden Augenblick zerspringen konnte.
Ich ging zum Schalter in die Halle zurück, um mir ein Retourbillett nach Münster zu kaufen; ich konnte nicht in Osnabrück wohnen. Es war zu gefährlich. „Wann geht der letzte Zug?" fragte ich den Beamten, der mit spiegelnder Glatze im gelben Licht hinter seinem Schalter saß, wie ein Kleinstadtbuddha, sicher und gefeit.
„Einer um zweiundzwanzig Uhr zwanzig, einer um dreiundzwanzig Uhr zwölf."
Ich ging zu einem Automaten und zog eine Bahnsteigkarte. Ich wollte sie zur Hand haben, falls ich schnell verschwinden mußte, zu einer Zeit, wenn mein Billett noch nicht fällig gewesen wäre. Bahnsteige waren in der Regel schlechte Verstecke, aber man hat immer mehrere zur Auswahl — drei in Osnabrück — und konnte rasch in irgendeinen Zug steigen, der abfuhr, und dem Schaffner erklären, daß man sich geirrt habe, nachzahlen und am nächsten Ort aussteigen.
Ich hatte beschlossen, einen Freund aus früheren Jahren, von dem ich wußte, daß er kein Anhänger des Regimes gewesen war, anzurufen. Am Telephon würde ich herausfinden, ob er mir helfen könne. Meine Frau direkt anzurufen, wagte ich nicht, weil ich nicht wußte, ob sie allein wohnte.
Ich stand in der kleinen Glaskabine mit dem Telephonbuch und dem Apparat vor mir. Das Herz schlug mir so stark, als ich die Seiten mit den beschmutzten und geknickten Ecken umblätterte, daß ich glaubte es zu hören; ich glaubte sogar, daß andere es hören könnten, und beugte mein Gesicht tiefer, damit man mich nicht erkennen könne. Ohne nachzudenken, hatte ich die Seite aufgeschlagen mit dem Buchstaben, mit dem mein früherer Name begann. Ich fand den Namen meiner Frau, die Telephonnummer war dieselbe, aber die Adresse war verändert. Statt Rißmüller-Platz hieß sie jetzt Hitler-Platz.
Im Augenblick, als ich die Adresse sah, schien es mir, als würde die trübe Birne in der Kabine hundertfach verstärkt. Ich blickte auf, so sehr hatte ich das Gefühl, ich stünde in tiefer Nacht in einem grell erleuchteten Glaskasten — oder aber ein Scheinwerfer sei von außen auf mich gerichtet. Der ganze Irrsinn meines Unternehmens kam mir wieder voll zum Bewußtsein.
Ich verließ die Kabine und ging durch die halbdunkle Halle. Die Schilder für „Kraft durch Freude" und die Reklamen für deutsche Kurorte drohten mit ihren blauen Himmeln und fröhlichen Menschen auf mich herab. Ein paar Züge mußten angekommen sein; ein Schwärm von Reisenden kam die Treppen herauf. Aus einer Gruppe löste sich ein SS-Mann. Er kam auf mich zu.
Ich lief nicht weg. Es konnte sein, daß er mich nicht meinte. Aber er blieb vor mir stehen und sah mich an.
„Verzeihen Sie, haben Sie Feuer?" fragte er.
„Feuer?" wiederholte ich, und dann rasch: „Gewiß! Ein Streichholz!"
Ich griff in die Tasche und suchte.
„Wozu ein Streichholz?" sagte der SS-Mann erstaunt. „Ihre Zigarette brennt ja!"
Ich hatte gar nicht gewußt, daß ich geraucht hatte. Jetzt hielt ich ihm meine Zigarette hin. Er hielt seine eigene an das glühende Ende und zog. „Was ist denn das für eine Zigarette, die Sie da rauchen?" fragte er dann. „Die riecht ja fast wie eine Zigarre!"
Es war eine französische Gauloise. Ich hatte einige Päckchen davon mitgenommen, als ich die Grenze überschritt. „Geschenkt von einem Freunde", erwiderte ich. „Französisches Kraut. Schwarzer Tabak. Er hat sie von der Reise mitgebracht. Mir sind sie auch zu stark."
Der SS-Mann lachte. „Am besten, man ließe das Rauchen ganz bleiben, was? So wie der Führer. Aber wer kann das, besonders in diesen Zeiten?" Er grüßte und ging.
Schwarz lächelte schwach. „Als ich noch ein Mensch war, der das Recht hatte, seine Füße irgendwohin zu stellen, habe ich oft gezweifelt, wenn ich las, wie die Schriftsteller Angst und Schreck beschrieben — daß dem Opfer das Herz stillstehe, daß es wie erstarrt dastände, daß es ihm eisig den Rücken herunter und durch die Adern liefe, daß ihm der Schweiß am ganzen Körper ausbreche —; ich hielt das für Klischees und schlechten Stil, und es mag sein, daß es das ist; aber eines ist es auch: es ist wahr. Ich habe das alles empfunden, genau so, obschon ich früher, als ich noch nichts davon wußte, darüber gelacht habe."
Ein Kellner kam heran. „Wollen die Herren keine Gesellschaft?"
„Nein."
Er beugte sich tiefer zu mir herunter. „Wollen Sie nicht, bevor Sie ganz ablehnen, die beiden Damen an der Bar ansehen?"
Ich sah sie an. Eine von ihnen schien sehr gut gewachsen zu sein. Beide trugen enge Abendkleider. Die Gesichter konnte ich nicht erkennen. „Nein", sagte ich noch einmal.
„Es sind Damen", erklärte der Kellner. „Die rechts ist eine deutsche Dame."
„Hat sie Sie hergeschickt?"
„Nein, mein Herr", erwiderte der Kellner mit einem hinreißend unschuldigen Lächeln. „Es war ein Gedanke von mir."
„Gut. Beerdigen Sie ihn. Bringen Sie uns lieber etwas zu essen."
„Was wollte er?" fragte Schwarz.
„Uns verkuppeln mit der Enkelin Mata Haris. Sie müssen ihm zuviel Trinkgeld gegeben haben."
„Ich habe noch nicht bezahlt. Sie glauben, es seien Spioninnen?"
„Vielleicht. Aber für die einzige Internationale der Welt: Geld."
„Deutsche?"
„Eine, sagt der Kellner."
„Glauben Sie, daß sie hier ist, Deutsche zurückzulocken?"
„Kaum."
Der Kellner brachte einen Teilet mit belegten Broten. Ich hatte sie bestellt, weil ich den Wein fühlte. Ich wollte klar bleiben. „Essen Sie nicht?" fragte ich Schwarz.
Er schüttelte abwesend den Kopf. „Ich hatte nicht daran gedacht, daß die Zigaretten mich hatten verraten können", sagte er, „Jetzt kontrollierte ich noch einmal alles, was ich bei mir hatte. Die Streichhölzer, die noch aus Frankreich waren, warf ich mit dem Rest der Zigaretten weg und kaufte mir deutsche. Dann fiel mir ein, daß mein Paß einen französischen Einreisestempel und ein Visum hatte; daß die französischen Zigaretten also gerechtfertigt gewesen wären, hätte man mich revidiert. Ich ging, naß von Schweiß und ärgerlich auf mich und meine Angst, zur Telephonkabine zurück.
Ich mußte warten. Eine Frau mit einem großen Parteiabzeichen rief zwei Nummern nacheinander an und bellte Befehle. Die dritte Nummer antwortete nicht, und die Frau kam wütend und herrisch heraus.
Ich rief die Nummer meines Freundes an. Eine Frauenstimme antwortete. „Bitte, kann ich mit Doktor Martens sprechen?" fragte ich und merkte, daß ich heiser war. „Wer ist am Apparat?" fragte die Frau.
„Ein Freund von Doktor Martens." Ich konnte meinen Namen nicht verraten. Ich wußte nicht, ob es seine Frau oder ein Dienstmädchen war, aber beiden konnte ich mich nicht preisgeben.
„Ihren Namen bitte!" sagte die Frau.
„Ich bin ein Freund von Doktor Martens", erwiderte ich. „Bitte, melden Sie ihm das. In einer dringenden Angelegenheit."
„Bedaure", erwiderte die Frauenstimme. „Wenn Sie Ihren Namen nicht angeben, kann ich Sie nicht anmelden."
„Sie müssen eine Ausnahme machen...", sagte ich. „Doktor Martens erwartet meinen Anruf."
„Wenn das so ist, können Sie mir ja auch Ihren Namen sagen..."
Ich dachte verzweifelt nach. Dann hörte ich, wie der Hörer aufgehängt wurde.
Ich stand auf dem grauen, windigen Bahnhof. Mein erster Versuch, einer, der mir sehr einfach erschienen war, war mißlungen, und ich wußte schon nicht mehr weiter. Vielleicht war es doch nötig, Helen direkt anzurufen und zu riskieren, daß jemand aus ihrer Familie mich an der Stimme erkannte. Ich konnte auch einen anderen Namen angeben, aber welchen? Doktor Martens — ein anderer fiel mir im Augenblick nicht ein. Ich zauderte noch, als mir die Idee kam, auf die ich als zehnjähriger Junge sofort gekommen wäre. Warum rief ich nicht bei Martens unter dem Namen des Bruders meiner Frau an? Er kannte ihn, und vor zehn Jahren hatte er ihn bereits nicht ausstehen können.
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