Das Licht der aufgehenden Sonne betonte die Handbewegungen des Oberbaumeisters noch und fiel auf einen sehr genauen Plan. Im Inneren einer riesigen, rechteckigen Umfassungsmauer, deren lange Seiten nicht parallel liefen, waren ein Palast vorgesehen, ein Thronsaal, ein Säulensaal, eine Schatzkammer und ein prächtiger Tempel. Jede Linie war mit ihren Proportionen gekennzeichnet. Jeder Teil des Plans war durch Striche, die einen riesigen Stern bildeten, mit den anderen Bauzeichnungen verbunden.
Salomo spürte eine Harmonie, die klar und fest zugleich war wie die eines lebendigen Wesens, dessen Seele man eher wahrnahm als den Leib. Die Zeichnungen hatten keinen gemeinsamen Maßstab, waren ein schlichter Aufriß. Hier schlug ein geometrisches Herz, dem menschliche Niedertracht gleichgültig war.
Gott hatte geantwortet.
Eine Stunde lang versenkte sich Salomo ganz in den Bauplan. Er deutete ihn mit den Augen eines Herrschers, übertrug die Linien in Stein, stellte sich das Volumen vor. War die Hand, die diese Pracht geschaffen hatte, wirklich die eines Menschen? War Meister Hiram nicht von dem Einen Gott inspiriert worden, auch wenn er nicht an Ihn glaubte?
Der Baumeister gab keine Erklärungen, und Salomo ließ sich nicht dazu herab, welche von ihm zu fordern. Er bestellte ihn zu Beginn der ersten Nachtwache in den Palast.
Hiram kam zu spät. Das Säubern der Werkzeuge und die Überprüfung der Baustelle hatten seine Anwesenheit erfordert. Salomo ging nicht auf die Beleidigung ein. Sein Gast lehnte Essen und Getränke ab.
«Dein Plan sagt mir zu. Du sollst ihn ausführen. Wo willst du diese kostbaren Unterlagen aufbewahren?»
«In der Zeichenwerkstatt.»
«Diese Hütte paßt nicht mehr zu deiner Würde. Von jetzt an wirst du einen Flügel des Palastes bewohnen. Und den Bauplan verwahren wir sicher in der königlichen Schatzkammer.»
«Ich weigere mich.»
«Warum?»
«Alles, was mit der Baustelle zu tun hat, bleibt auf der Baustelle. Die Bequemlichkeiten, über die ich verfüge, reichen mir.»
Damit bot er Salomo in seinem eigenen Palast die Stirn. Der Bauplan erwies sich als großartig, doch sein Urheber hatte eine Einstellung, die nicht mit seinem wichtigsten Amt in Einklang stand. Meister Hirams Benehmen bestätigte den Argwohn des Hohenpriesters nur zu sehr.
«Wie du willst», gab Salomo nach.
In einem abgeschiedenen Dorf in den Bergen von Ephraim lauschten die Fürsten des Stammes Manasse und Ephraim, mehrere religiöse Traditionalisten und Freunde des abgesetzten Hohenpriesters Abjatar und einige Hauptleute der Landwehr Jerobeams Worten.
Der rote Riese, dem Salomo die Organisation der Frondienste anvertraut hatte, sprach leidenschaftlich, und die Versammelten, die sich auf dem Gipfel eines felsigen Abhangs versteckten und sich von Spähern bewachen ließen, hörten aufmerksam zu. Jerobeams Geschenk hatte bei den Gästen Eindruck gemacht: zwei goldene Kälber, die an die berühmten Feste erinnerten, bei denen sich die Hebräer von Jahwe entfernt und sich verbotenen Freuden hingegeben hatten.
«Willst du den Kult des Einen Gottes abschaffen?» wollte ein Priester wissen.
«Wenn diese ungerechte Macht den Zielen eines wahnsinnigen Königs Vorschub leistet», erwiderte Jerobeam, «warum sollen wir sie dann noch länger anbeten? Früher hat uns Jahwe in den Krieg geführt. Heute ist unser Volk feige und schwach. Der wahre Jahwe braucht keinen prächtigen Tempel. Die Bundeslade reicht ihm. Er ist Nomade wie ihr und ich und möchte Siege sehen! Salomo will die religiöse Einheit des Landes verwirklichen, weil er Priester eines friedlichen Gottes werden will, dessen einziger Vertrauter er ist. Salomo ist ein Pharao, kein israelitischer König. Er wird den israelitischen Stammesfürsten alle Macht wegnehmen. Er wird Zadok umbringen, so wie er Abjatar fortgeschickt hat. Er wird die Steuerlast erhöhen, das Land ruinieren, nur um diesen verfluchten Tempel zu bauen. Wir haben nicht das Recht, ihm noch länger freie Hand zu lassen.»
Jerobeams Worte säten Zweifel. Der Fronvogt, dem Salomo den Titel Oberbaumeister verweigert hatte, rächte sich jetzt.
Ein Diener goß Feigen- und Karobsaft in ein Faß, in das er die von den Mitgliedern der Verschwörung dargereichten Becher tauchte.
«Strebst du nach Salomos Thron?» fragte der Fürst des Stammes Ephraim.
Jerobeam reckte das kantige Kinn. Endlich kam man zum wahren Ziel dieser heimlichen Versammlung.
«Israel braucht einen starken und kühnen Herrscher, keinen Dichter und keine Memme. Salomos Frieden führt unser Land in den Untergang. Bei erster Gelegenheit wird Ägypten in Israel einfallen. Mit mir bekommen unsere Soldaten wieder Zutrauen und greifen das Reich des Bösen an.»
Wenn sie sich erst berieten, hatte Jerobeam, da war er sich sicher, gewonnenes Spiel. Wer sah in ihm nicht einen Krieger, der kampflüsterne Truppen begeistern konnte? Der rote Riese genoß die reine Bergluft in tiefen Zügen. Diese Provinz gehörte ihm wie alle anderen auch. Er würde dieses Land besitzen und es erneut auf seine sprichwörtliche Tapferkeit stolz machen.
Die Beratungen dauerten nur kurz.
Der Fürst des Stammes Ephraim trat zu Jerobeam.
«Wir bleiben Salomo treu», teilte er ihm mit. «Und deine Rede vergessen wir.»
Die Verschwörer schlugen Pfade ein, die hinab in die Ebene führten. Jerobeam brüllte seine Wut hinaus. Mit einem Fußtritt warf er das Faß um. Der Saft verteilte sich auf dem Boden und färbte ihn rot.
Anup bellte. Lehrlinge und Gesellen scharten sich um Kaleb, und alle waren verstört über die furchtbare Entdeckung.
Ausgerechnet der Straßenkehrer hatte sie aufgeschreckt. Am Vorabend des Sabbat war er auf das Dach der Zeichenwerkstatt gestiegen, das aus schlichtem, lehmbeworfenem Flechtwerk bestand. Jemand hatte ein Loch gemacht und war in das Bauwerk eingedrungen, das verriegelt war und den Eindruck von Sicherheit vermittelte.
Hiram, der sich seit zwei Tagen in Ezjon-Geber aufhielt, wo er die Hochöfen besichtigte, wurde nach Jerusalem zurückgerufen. Vor ihm wagte niemand festzustellen, wie groß das Ausmaß des Schadens war.
Der Oberbaumeister sperrte die Tür auf und betrat den Bereich, den er bislang für geschützt gehalten hatte. Werkzeuge, Papyri und Schreibbinsen waren verschwunden. Entsetzt hob Hiram den Deckel des Kastens hoch, in dem der Bauplan lag. Doch der Plan war nicht gestohlen worden.
Das war wirklich ein sonderbarer Diebstahl. Warum war das Wichtigste nicht mitgenommen worden? Der Baumeister entrollte den kostbaren Papyrus, da er Beschädigungen befürchtete. Doch seine Angst war unnötig gewesen. Er bat die Gesellen, ein neues Flachdach aus Ziegelsteinen zu bauen, auf das er einen Späher postieren konnte.
Anup war außer sich vor Freude, daß er seinen Herrn wiedersah, und versuchte ihn zu einem Spaziergang zu verlocken, doch Kaleb kam dazwischen, wollte sich unverzüglich und fern der Baustelle mit Hiram unterhalten. Der Hund, der wußte, wie schnell sie gehen würden, verschwand in einem Gebüsch und tauchte aus dem Unterholz wieder auf, denn er witterte, wohin sie strebten. Die beiden Männer gingen lange über die Felder bis zu einem schmalen Abgrund mit kleinen Höhlen, in die sich Schafherden bei starkem Regen flüchteten. Erschöpft setzte sich Kaleb unter einen wilden Feigenbaum, der reiche Früchte trug.
«Ich bin zu alt für derartige Gewaltmärsche.»
«Ich hatte dich damit beauftragt, über die Baustelle zu wachen», erinnerte ihn Hiram. «Es ist eingebrochen worden. Was hast du erfahren?»
«Leider gar nichts! Diese Untat wurde mitten in der Nacht begangen. Da habe ich geschlafen. Dein Hund auch. Aber ich bin trotzdem deine Augen und deine Ohren gewesen! Soll ich wirklich erzählen, was ich gesehen und gehört habe?»
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