Archimedes ergriff die zittrige Hand seines Vaters. »Das werde ich«, versprach er ernst. »Trotzdem hoffe ich, Papa, daß König Hieron einen Ausweg findet. Man sagt, er wäre ein weiser Mann. Vielleicht bringt er uns doch noch den Frieden.«
»Ein guter Herrscher war er ja«, räumte Phidias, wenn auch zögernd, ein. Er hatte immer die unruhigen Demokratiebestrebungen der Stadt unterstützt. Aber selbst Hierons Feinde mußten zugeben, daß er ein guter Herrscher war. Vor elf Jahren war er in einem unblutigen Militärstreich an die Macht gekommen und hatte seither ausgewogen, menschlich und strikt nach dem Gesetz regiert. Sehr zur Verwunderung aller Bürger, die von einem Tyrannen kein derartiges Verhalten erwarteten.
»Ja, ich bete, daß du recht hast«, fuhr Phidias fort, dann lächelte er seinen Sohn an. »Ich bin froh, daß du wieder da bist«, meinte er zärtlich. »Mir wurde immer angst und bang bei dem Gedanken, was mit dem Haus passiert, wenn es in Kriegszeiten ohne Oberhaupt ist. Und nun, mein Kind, denkst du dir eine Waffe aus, um unsere Feinde zu zerstören. Und vergewissere dich ja, daß du dafür einen guten Preis bekommst!«
»Jawohl, Papa.« Archimedes gab seinem Vater einen Kuß auf die Stirn, küßte auch seine Mutter, die sich um den Kranken kümmerte, und trat dann in den Innenhof hinaus.
Dort versuchte Philyra gerade vergeblich, seinen Mantel zu reinigen. Sie hatte ihn gebürstet und ausgeklopft und kochendes Wasser darüber geschüttet. Leider hatte sie damit nur erreicht, daß sich der fettige Lampenruß noch tiefer im Gewebe ausbreitete. Besorgt rollte sie beim Anblick ihres Bruders die Augen. »Leider mußt du etwas anderes anziehen«, erklärte sie ihm.
»Ist sowieso zu heiß für einen Mantel«, antwortete er.
Am Fuß der Treppe tauchte Marcus mit einem alten Mantel aus schlichtem, ägyptischem Leinen auf. »Der hat aber Weinflecken!« fauchte ihn Philyra ungeduldig an.
»Aber wenn man den Saum geschickt darüberfaltet, sieht man’s nicht«, antwortete Marcus, der seinen Vorschlag gleich in die Tat umsetzte.
Stöhnend breitete Archimedes die Arme aus und ließ geduldig von seiner Schwester und seinem Sklaven den Leinenmantel um sich drapieren. Er bestand lediglich darauf, daß der Überwurf unter dem rechten Arm hindurch geführt wurde und nicht darüber. »Aber es sieht würdevoller aus, wenn man ihn über beide Schultern trägt!« protestierte Philyra. »Man schwitzt auch mehr!« antwortete Archimedes. Die beiden anderen traten einen Schritt zurück, um zu prüfen, ob er sich auch wirklich beim königlichen Schwiegervater sehen lassen konnte. Archimedes wiederum musterte Marcus nachdenklich.
Er hatte mit sich gerungen, ob er Marcus zur Hilfe beim Katapultbau heranziehen sollte. Zweifelsohne konnte er ihm nützlich sein. Er hatte ihm bei den Wasserschnecken und bei Dutzenden von weniger erfolgreichen Maschinen geholfen und wußte, wie man technische Bauanleitungen realisiert. Er war kräftig, schnell und konnte geschickt mit Säge und Hammer umgehen. Andererseits -andererseits fühlte sich Marcus noch immer eindeutig jenen Menschen verpflichtet, gegen die die Katapulte eingesetzt werden sollten. Obendrein würde ihn der Katapultbau in jeden Winkel der Militärwerkstätten und des Arsenals führen - also in alle strategisch entscheidenden Gebäude, wo Syrakus am verletzbarsten war. Wenn jemand hier ein Feuer legen würde.
»Marcus«, sagte Archimedes, »ich möchte, daß du hierbleibst und aufpaßt, ob meine Mutter irgendeine Arbeit im Haus erledigt haben möchte.«
Der Sklave verzog keine Miene. Er hatte dieses Problem kommen sehen, hatte aber nicht erwartet, daß auch sein Herr soviel Weitsicht besitzen würde. »Du möchtest also nicht, daß ich mit dir komme, Herr?«
Archimedes schüttelte den Kopf. »Du bist kein Samnite«, erklärte er ruhig.
Einen Augenblick stand Marcus da und musterte ihn stirnrunzelnd. Er war sich nicht sicher, ob er sich erleichtert fühlte, weil er nicht zur Konstruktion von Geräten herangezogen wurde, die seinen eigenen Leute schaden konnten, oder ob er verletzt war, weil sein Herr ihn des Verrats verdächtigte. Er spürte Philyras’ Blicke auf sich, schockierte, anklagende Blicke. Glaubte sie allen Ernstes, er wäre glücklich, wenn ihre Stadt an Rom fiele, ihr Bruder getötet und sie selbst vergewaltigt und versklavt würde? Schließlich sagte er: »Herr, ich würde nie etwas tun, was dieser Stadt oder diesem Haus Schaden zufügen würde, das schwöre ich. Und wenn ich lüge, dann mögen mich die Götter mit äußerster Härte strafen!«
»Ich glaube dir, weil du geschworen hast«, sagte Archimedes, »trotzdem halte ich es für besser, wenn du daheim bleibst.«
Marcus zog die Schultern hoch. »Sehr wohl, Herr.«
Archimedes klopfte ihm auf den Rücken. Dabei fiel der Leinenmantel herunter. Er war zu kurz und blieb trotz des umgeschlagenen Saumes nicht ordentlich liegen. Archimedes drapierte ihn ziemlich schief und trollte sich.
»Er glaubt, du würdest die Stadt verraten!« rief Philyra erregt, sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Jetzt mußt du es mir aber gestehen: Was für eine Sorte Italiener bist du?«
»Was macht das für einen Unterschied?« grollte Marcus. »Ich bin doch nirgends ein Bürger. Außerdem, welchen Anspruch kann diese Stadt auf mich erheben? Schließlich hat ja auch niemand je so getan, als ob ich aus freien Stücken hier wäre.« Ein wenig war er selbst über seine Ehrlichkeit überrascht. »Ich habe geschworen, daß ich nichts tun werde, was dieser Stadt schaden könnte. Und Archimedes hat es mir abgenommen. Reicht das immer noch nicht?«
»Weißt du denn, was für Leuten die Römer in Sizilien zu Hilfe gekommen sind?« wollte Philyra wissen.
Wieder zog Marcus unglücklich die Schultern hoch. Die Römer waren in Sizilien einmarschiert, um der Stadt Messana gegen Syrakus zu helfen. Aber Messana war ein Räubernest, die Heimat von Banditen. Vor über zwanzig Jahren hatte ein früherer Tyrann von Syrakus eine Gruppe italischer Söldner, Kampanier, als Garnison in dieser Stadt postiert. Angelockt durch den Reichtum Messanas, hatten sie die chaotische Situation beim Tod des Tyrannen zu ihrem Vorteil ausgenutzt und die Stadt beschlagnahmt. Sie hatten alle Männer ermordet und Frauen und Kinder zu ihren Sklaven gemacht. Anschließend hatten die Kampanier, die sich nun »Mamertiner« -Söhne des Mars - nannten, sämtliche Nachbarstädte, die unter syra-kusischem Schutz standen, überfallen oder von ihnen Schutzgelder erpreßt. Ab und zu war Syrakus gegen diese Banditen zu Felde gezogen, soweit es Karthago und die innenpolitische Situation erlaubten, aber leider nur mit geringem Erfolg - bis Hieron an die Macht kam. Er hatte die Mamertiner auf dem Schlachtfeld besiegt und seinerseits Messana belagert. Um ihren Kopf zu retten, hatten sich die Kampanier an beide Großmächte der westlichen Welt gewandt: an Karthago und an Rom.
Karthago hatte als erstes reagiert. Da es Syrakus schon immer gern geärgert hatte, hatte es eine Schutztruppe nach Messana entsandt. Aber die karthagische Intervention hatte eine Antwort der neuen Herrin von Italien provoziert. Erst vor sechs Jahren war Rhe-gium, das auf der anderen Seite der Meerenge direkt gegenüber von Messana lag, an Rom gefallen. Und Rom hatte keine Lust, seiner afrikanischen Gegenspielerin die Kontrolle über Messana zu gestatten. Also startete es seinen eigenen Feldzug gegen die mamertinische Stadt. Die Mamertiner zogen eine römische Garnison der karthagischen vor - schließlich waren sie immer noch Italiener - und jagten die Karthager zum Teufel. Und Syrakus, das lediglich ein dauerndes Ärgernis vom Hals haben wollte, fand sich plötzlich als Verbündete an der Seite Karthagos wieder und - im Krieg mit Rom.
»Meiner Meinung nach hätten die Römer nicht nach Sizilien kommen sollen«, murmelte Marcus. »Die ganze Sache stinkt zum Himmel und damit auch der ganze Krieg. Die Mamertiner verdienen keine Unterstützung.« Mit einem Blick in Philyras argwöhnische Augen erklärte er plötzlich mit Nachdruck: »Herrin, bitte, glaub mir. Nie im Leben werde ich dieses Haus verraten.«
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