Ramses der Große erhob sich und bedeutete damit, dass die Ratssitzung beendet war. Der Pharao wandte sich an Kamose.
»Du bist ein unvorsichtiger Junge«, sagte er. »Dein Verhalten hätte eine strenge Strafe verdient. Aber du trägst die Wahrheit in deinem Inneren. Du warst von ihr überzeugt, ohne einen Beweis dafür zu haben. Ich werde deinem Lehrer gratulieren. Er hat dich gut erzogen. Er hat es verstanden, in dir die Klugheit des Herzens zu erwecken.«
Die Lippen des Alten, der sich auf seinen Stock stützte, deuteten gegen seinen Willen ein leichtes Lächeln an.
Der höhere Offizier, Kamose und Nofret nahmen unverzüglich ein Armeeboot, das so schnell, wie der Wind es erlaubte, von der Hauptstadt zum Dorf fuhr.
Als sie landeten, stand die Sonne noch hoch am Himmel. Die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Die Gassen waren verlassen.
Nofret hatte Kamose nicht allein lassen wollen. Die Ereignisse hätten sie beruhigen müssen, aber in ihrem Inneren verspürte sie noch immer eine dumpfe Sorge, als ob der Schatten des Unglücks noch nicht ganz vertrieben wäre.
Mit großer Ergriffenheit sah Kamose das Haus seiner Eltern wieder. Ein gebeugter Mann fegte die Schwelle.
»Vater!«, rief Kamose und lief zu ihm.
Geru ließ den Besen fallen. Er umarmte seinen Sohn.
»Kamose! Bist du nicht mehr im Tempel…?«
»Hab keine Sorge. Ich komme, um euch euren Besitz zurückzugeben. Wie geht es Mama?«
»Sie ist noch immer bettlägerig… Wer ist der Soldat, der dich begleitet?«
»Ein höherer Offizier der persönlichen Garde des Pharao.«
Geru verzog erschöpft das Gesicht.
»Was wollen sie uns denn noch aufbürden?«
»Nichts weiter, mein Vater. Wir kommen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Lass uns eintreten.«
Geru trat zur Seite.
Der höhere Offizier, Kamose und Nofret betraten das Haus.
Der Betrüger lag ausgestreckt auf einer Matte, aß Weintrauben und trank kühlen Wein. Er hob den Kopf.
»Besuch…«
Plötzlich erkannte er Kamose.
»Aber das ist doch der Sohn meiner Diener! Wünschst du, in meinen Dienst einzutreten, Kleiner? Umso besser. An kräftigen Armen mangelt es immer. Umso mehr, als deine Mutter nicht mehr sehr nützlich ist…«
»Wer seid Ihr?«, fragte der Offizier.
»Ich? Ich bin Setek, Veteran der Armee von Ramses dem Großen und ehrenhafter Soldat.«
Der Offizier legte die Hand an sein Schwert.
»Du bist nur ein Lügner. Setek hat unter meinem Befehl gedient. Wer bist du?«
Mit katzenartiger Geschwindigkeit rannte der falsche Held zur Haustür. Aber sein Fluchtversuch schlug fehl. Kamose stellte ihm ein Bein. Der Mann fiel mit dem Gesicht zu Boden.
Sofort setzte der höhere Offizier dem Usurpator den rechten Fuß auf den Nacken.
»Sprich jetzt«, befahl er, »oder ich zertrümmere dir den Schädel. Wer bist du?«
»Seteks Diener«, gestand er. »Als Setek die Armee verlassen hat, um sich hier in der Gegend niederzulassen, brauchte er jemanden für die alltäglichen Arbeiten… Der Pharao hatte ihm ein kleines Stück Land westlich des Dorfes zugeteilt… Aber ich kannte den Bürgermeister… Da gab es wirklich Besseres. Wir haben uns Setek vom Hals geschafft. Der Bürgermeister hat den Erlass der Verwaltung verändert… Es ist ihm gelungen, das Katasteramt zu täuschen, und er hat mir das schönste Land und das schönste Haus gegeben. Ich bin für nichts verantwortlich. Er hat alles organisiert und alles entschieden.«
»Du Lump! Was musstest du dafür tun?«
»Nichts, ich schwöre es Euch…«
Der Fuß des Offiziers auf seinem Nacken wurde schwerer.
»Hört auf, ich rede ja schon! Wir mussten eine Sondersteuer auf die Ernten eintreiben… Ich hatte den Auftrag, die widerspenstigen Bauern zur Ordnung zu rufen.«
»Wer hat Setek umgebracht?«
»Ich hatte keine andere Wahl… Der Bürgermeister hat mich bedroht.«
»Das Gericht wird Wahrheit und Lüge trennen. Steh auf, Elendiger!«
Der falsche Setek schien besiegt und unfähig, sich zu bewegen. Es war ihm gelungen, den Militär einzulullen.
Plötzlich versetzte er dem Offizier einen Faustschlag ins Gesicht, packte dessen Schwert und bedrohte Kamose.
»Du trägst für alles die Verantwortung«, fauchte er mit hassverzerrtem Gesicht. »Hättest du nicht eingegriffen, wäre ich ein reicher Mann gewesen! Ich fliehe, aber zuvor werde ich dich töten!«
Kamose stand gegen eine Wand gedrängt und hatte keine Möglichkeit, dem Angriff des Verbrechers auszuweichen.
Nofret stellte sich zwischen die beiden Männer.
»Geh mir aus dem Weg!«, befahl der falsche Setek. »Ihn will ich töten.«
Nofret sah dem Mörder starr in die Augen.
»Bei Sekhmet, der Schrecklichen«, sagte sie mit machtvoller Stimme und betonte deutlich jedes einzelne Wort der Beschwörungsformel, »bei der Göttin, die die Erde mit ihrem Feuer verbrennt und die Gottlosen vernichtet: Möge dieses Schwert zur Schlange werden!«
Der falsche Setek begann höhnisch zu lachen. Wenn das Mädchen glaubte, ihn mit Zauberei an seiner Tat zu hindern! Doch plötzlich fühlte er eine seltsame Kälte in der rechten Hand, mit der er das Schwert hielt. Das Schwert hatte sich in eine Kobra verwandelt. Der Mann war überzeugt, eine Halluzination zu haben, und wollte es nicht loslassen. Die Schlange schoss auf ihn zu, griff an und schlug ihm ihre Zähne in die Brust. Tödlich verletzt brach der Usurpator zusammen.
Der Offizier erhob sich. Der Faustschlag hatte ihn betäubt, und so hatte er die Szene nicht miterlebt. Vor Kamose und Nofret, die sich umschlungen hielten, lag die Leiche des falschen Setek, der sich mit seinem Schwert selbst die Brust durchbohrt hatte.
Der Bürgermeister des Dorfes war verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden. In Anbetracht der Schwere der begangenen Taten würde er in Theben vor Gericht kommen. Richter Rensi würde als Ankläger im Namen des Pharao die höchste Strafe fordern.
Zum Nachfolger des Bürgermeisters war Geru bestimmt worden. Geru hatte neue Kraft geschöpft und hörte nicht auf, Lobeshymnen auf seinen Sohn Kamose zu singen, der in Gesellschaft von Nofret an der Seite seiner Mutter geblieben war. Er wollte sie bis zu ihrer vollständigen Genesung nicht verlassen. Nedjemet war überglücklich und brauchte nicht lange, um wieder gesund zu werden. Die Sonne erhob sich erneut über glücklichen Tagen.
Nofret hatte die einfachen Freuden des Landlebens entdeckt. Sie hatte die Kleidung einer Adligentochter abgelegt und trug nun den Schurz der Bäuerinnen. Kamose hatte ihr das Land gezeigt und sie Felder, Mittagsschläfe im Schatten der Akazien, Spaziergänge am Nil und die Jagd im Schilfrohr entdecken lassen. Jeder Tag erschien ihnen zu kurz.
Der alte Hund des Hauses hatte Zuneigung zu Nofret gefasst. Sobald er sie sah, wedelte er mit dem Schwanz und kam angerannt, um ihr die Beine zu lecken.
Weder Kamose noch Nofret wagten es, das Thema anzusprechen, das sie doch so sehr beschäftigte. Sie zogen es vor, die Gegenwart zu genießen und nicht über die Zukunft zu reden.
Als Richter Rensi und sein Gefolge ins Dorf kamen, war Nofret nicht sonderlich überrascht. Sie wusste, dass ihr Vater gezwungen war, sich mit dem Fall zu befassen.
Bürgermeister Geru und seine Gattin Nedjemet bereiteten der mächtigen Persönlichkeit inmitten eines Palmenhains am Rande der Felder ein überaus schönes Festmahl. Junge Bäuerinnen legten dem Richter Blumensträuße zu Füßen.
Als die Festlichkeiten beendet waren, blieb Rensi allein mit seiner Tochter.
Nofret wartete, dass ihr Vater das Wort ergriff.
»Dieser Ort ist entzückend«, sagte er.
»Es ist der schönste, den ich kenne.«
»Hast du vergessen, dass du Hathor-Priesterin bist, Nofret?«
Читать дальше