Sie saßen nebeneinander und betrachteten die Wüste, die Felder, den Nil. Sie hatten das Glück, im schönsten Land der Erde zu leben. Sie hatten das Glück, sich begegnet zu sein.
Ein Wanderfalke stieg zum Licht empor.
Nofret wandte sich zu dem jungen Mann.
»Ich liebe dich auch, Kamose.«
Das Fest war ein voller Erfolg gewesen. Bevor die Gäste die prachtvolle Villa verließen und an das östliche Ufer zurückkehrten, hatten sie alle Richter Rensi zu dem beeindruckenden Empfang und der unvergleichlichen Schönheit seiner Tochter gratuliert.
»Die Heuchler!«, dachte Rensi. »Nicht einer hat es gewagt, etwas zu der unerwarteten Anwesenheit des jungen Schreibers zu sagen. Bestimmt glauben sie, er sei eine bedeutende Persönlichkeit, der nichts Originelleres eingefallen ist.«
Obwohl er nicht geschlafen hatte, hatte der Richter sich an die Arbeit gemacht. Er musste komplizierte Fälle behandeln und umfangreiche Angelegenheiten untersuchen. Schon seit Jahren gönnte er sich keinen Ruhetag mehr. Gleich am Nachmittag würde er sich ins Gericht begeben, um dort eine Versammlung von Richtern zu leiten.
Kurz vor Mittag empfing er Nofret und ihren Gast.
»Wir sind zum Schlafen in den Palmenhain gegangen«, erklärte sie.
»Ich habe euch aufbrechen sehen«, sagte Rensi. »Ich hielt es für richtig, euch gewähren zu lassen, obwohl ich nicht mein Einverständnis gegeben hatte.«
Nofret küsste ihren Vater.
»Warum so streng, mein Vater? Wünschst du nicht mein Glück?«
Rensi wollte mit seiner Tochter nicht diskutieren. Er kannte ihre gefürchtete Intelligenz nur zu gut.
»Wir sprechen später noch mal darüber, ich habe nur wenig Zeit für den jungen Mann. Wer ist er und was wünscht er?«
»Ich bin der Sohn von Geru und Nedjemet. Das Kataster hat einen Fehler begangen, als es deren Grund und Boden einem Soldaten namens Setek zuteilte. Ich fordere Entschädigung.«
»Du bist recht jung, um zu fordern«, urteilte Rensi, »und es handelt sich um wahrlich schwere Anschuldigungen. Du bist von jugendlichem Ungestüm. Aber ein künftiger Schreiber sollte lernen, seine Worte besser abzuwägen.«
Kamose schätzte die Zurechtweisung nicht, es gelang ihm aber, sich zu beherrschen.
»Kamose spricht mit großer Heftigkeit«, unterbrach Nofret, »aber du musst ihn verstehen, mein Vater. Kann man ihm vorwerfen, dass er seine Eltern liebt? Kann man ihm vorwerfen, dass er ihnen ein Glück zurückgeben will, das ihnen genommen wurde?«
»Fällen wir kein vorschnelles Urteil«, forderte Rensi. »Im Kataster arbeiten gewissenhafte Männer. Sie kennen die Bedeutung ihrer Aufgabe. Noch nie habe ich eine Klage wegen eines solchen Irrtums erhalten.«
»Und doch ist es so«, erklärte Kamose, der sich bemühte, nicht ganz so leidenschaftlich zu sein. »Meine Eltern haben das Recht erhalten, durch hartnäckige Arbeit ihren Grund zu erwerben. Sie genießen das Ansehen des ganzen Dorfes. Ihr Gut ist heute das fruchtbarste und das am besten bestellte von allen. Warum hat Setek, selbst wenn er ein Held ist, das Recht, sich mit Gewalt anzueignen, was ihm nicht gehört?«
Richter Rensi schien verwirrt.
»Der Fall ist seltsam… Ein Stück Land wird nur mit Zustimmung des Pharao, der seine Befehle an das Katasteramt leitet, zu Privatbesitz. Wurden deine Eltern wegen etwas verurteilt?«
»Aber niemals«, entgegnete Kamose, empört über eine solche Unterstellung. »Sie sind die rechtschaffensten Menschen, die ich kenne.«
»Ich hoffe, ich muss dich nicht enttäuschen«, entgegnete der Richter.
»Was hast du vor?«, fragte Nofret ängstlich.
»Ich will den wichtigsten Mann des Katasters befragen«, antwortete Richter Rensi. »Die betreffende Person ist nicht sehr zugänglich und verlässt den geschlossenen Tempel nur sehr ungern. Ich werde meine ganze Autorität einsetzen müssen.«
»Werden Abschriften der Archive nicht in einem Ministerium aufbewahrt?«
»Ich will die Originale sehen«, erklärte der Richter. »Das ist die einzige Möglichkeit, Gewissheit zu erlangen.«
»Wann kannst du handeln?«
»Ich brauche mindestens drei Tage. Ich habe andere laufende Geschäfte, darunter einige dringende. Ihr werdet hier auf mich warten. Ich dulde keinerlei Initiative von eurer Seite.«
Nofret verbarg ihre Freude. So gute Nachrichten hatte sie nicht erhofft.
Nofret und Kamose verbrachten die meiste Zeit im Palmenhain und gingen nur in die Villa, um dort ihre Mahlzeiten einzunehmen. Kamose war überzeugt, Recht zu erhalten, und erging sich in Lobreden auf die Rechtschaffenheit des Richters. Er sah seine Fehler ein und bedauerte seine Kritik gegenüber den hohen Würdenträgern. Von einer schweren Last befreit, konnte er seiner Liebe freien Lauf lassen.
Nofret erwiderte Kamoses Leidenschaft mit der gleichen Intensität wie er. Er war ihre erste Liebe und würde ihre letzte sein. Sie war davon überzeugt, dass sie nie einen anderen Mann lieben würde, wie Kamose überzeugt davon war, nie eine andere Frau zu lieben.
Und so schenkten sie sich ihre Körper und ihre Seelen.
»Ich möchte dein Mann sein«, erklärte er.
»Ich möchte deine Frau sein«, erwiderte sie.
Auf die Begeisterung folgte Sorge. Nofret war sich im Klaren darüber, dass es schwierig werden würde, ihren Vater davon zu überzeugen, einen Schwiegersohn zu akzeptieren, der nicht aus einer adligen Familie stammte. Kamose wusste, dass er ein Haus bauen müsste, um seine Frau aufnehmen zu können. Sobald er sie in seine Arme schließen würde und sie vereint die Schwelle ihres Hauses überschreiten würden, würde man sie als Mann und Frau ansehen – ohne irgendeine andere Zeremonie.
Beide beschlossen, die Zukunft erst einmal zu vergessen und sich an der Gegenwart zu berauschen. Sie hatten so viel gemeinsam zu entdecken: Nofret erteilte Kamose seinen ersten Reitunterricht. Sie schwammen gemeinsam in den Wasserbecken, und er half ihr, ihre Technik zu vervollkommnen. Sie stiegen auf einen Wagen, fuhren kilometerweit in die Wüste und genossen ihre Einsamkeit. Sie lasen gemeinsam Liebesgedichte und erkannten sich in den Beschreibungen der Dichter wieder, die von Liebenden erzählten, die sich in einem irdischen Paradies bewegten, in dem allein die Stärke ihrer Gefühle zählte.
Trunken vor Glück versuchten sie, in einem fischreichen Kanal zu angeln, hatten kein Glück und lachten schallend über ihr Ungeschick. Die Fische kümmerten sie nicht viel. Alles war Vorwand, sich zu umschlingen und zu küssen. Aber beide bewahrten dabei eine erstaunliche Klarsicht. Ihr Wesen hatte sich durch die Erkenntnis ihrer gegenseitigen Leidenschaft grundlegend verändert. Nofret und Kamose spielten nicht, sich zu lieben. Sie liebten sich.
Als die Sonne unterging, legten sich die beiden jungen Leute ans Ufer. Aneinander geschmiegt, ließen sie die letzten Strahlen des Tages in ihre Augen dringen. Sie nahmen die friedliche Stimmung auf wie Nahrung, wie eine Gabe des Himmels, die sie wie ein kostbares Gut bewahren mussten. Als sie gerade innig verbunden dalagen, kam der Verwalter sie holen.
Richter Rensi war zurückgekehrt.
»Ich werde mit ihm sprechen«, erklärte Kamose.
»Nein. Das ist meine Aufgabe. Ich werde ihn überzeugen können. Mein Vater will mein Glück. Er wird unser Glück wollen.«
»Und wenn er dagegen ist?«
Nofret antwortete nicht. Sie weigerte sich, die Möglichkeit des Scheiterns ins Auge zu fassen. Zwischen ihr und ihrem Vater hatte immer vollkommenes Einverständnis geherrscht. Er spürte ihre tiefsten Wünsche, erlaubte ihr, sie zu äußern und ihr Leben danach zu führen. Warum sollte es heute anders sein?
Richter Rensi studierte Verwaltungsdokumente, als Nofret und Kamose in sein Büro traten.
»Einen Augenblick«, forderte er abweisend. »Ich beende noch die Prüfung dieses Berichts.«
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