Stärker als alles andere jedoch zog das Heilige die junge Frau an. Sie war fasziniert von den religiösen Zeremonien, bei denen sie für viel zu kurze Zeit den Prozessionen der Priesterinnen zusehen konnte, die den Tempel von Karnak verließen. Schon sehr früh hatte sie darum gebeten, ihnen anzugehören. Rensi hatte begriffen, dass er gegen den Willen seiner Tochter nicht ankämpfen konnte, und ihre Aufnahme in die weibliche Priesterschaft von Karnak unterstützt.
Bei den Priesterinnen hatte Nofret über immer längere Zeiträume hinweg zunächst niedrige Aufgaben erfüllen müssen: Sie musste die Musikinstrumente aufräumen, sie reinigen, die Papyrusrollen mit den rituellen Texten tragen und auf die Sauberkeit der den Priesterinnen vorbehaltenen Kulträume achten.
Ihre Unnachgiebigkeit und ihre Kenntnis der Riten, an denen sie teilnahm, hatten ihr den Zugang zum geschlossenen Tempel geöffnet. Auf diese Weise hatte Nofret eine Welt von Gottheiten und Symbolen entdeckt, für deren Entschlüsselung sie ein ganzes Leben brauchen würde.
Wenn sie den Tempel verließ, um für ein paar Wochen nach Hause zurückzukommen, fand sie ihre Verehrer noch langweiliger und war unaufhörlich damit beschäftigt, sie von sich fern zu halten.
Diese Haltung bereitete Rensi Freude und Sorge zugleich. Sie bereitete ihm Freude, weil Nofret sich seinem Ideal entsprechend verhielt und ihre wahre Persönlichkeit zeigte, ohne Moden oder äußeren Einflüssen nachzugeben. Sie machte ihm Sorge, weil sich seine so schöne Tochter zu wenig darum kümmerte, eine Familie zu gründen. Und Rensi, dessen Frau bereits vor zehn Jahren gestorben war, träumte davon, Enkelkinder im Haus zu haben…
Der Gutsverwalter wagte es, das Grübeln des Richters zu unterbrechen.
»Herr, alles ist bereit. Wir beginnen damit, das Essen zu servieren. Ihr müsstet Euch nun in Begleitung Eurer Tochter auf den Ehrenplatz setzen.«
»Du hast Recht, wo ist Nofret?«
Verlegen senkte der Verwalter den Blick.
»Wir wissen es nicht… Vor kurzem sprach sie noch mit zwei jungen Männern… Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.«
Rensi bekam einen Schreck, ihm schnürte es die Kehle zusammen. Was hatte dieses seltsame Verschwinden zu bedeuten? Wohin war Nofret gegangen? Noch nie hatte sie sich auf solche Weise ihren Pflichten entzogen.
»Man möge sie unauffällig suchen! Ich lasse meine Gäste warten.«
Genau in dem Augenblick, als der mächtige Gastgeber den Bankettsaal betrat, sah er seine Tochter in Begleitung eines muskulösen jungen Mannes mit breiter Stirn, bloßem Oberkörper und einem durchnässten und verknitterten Schreiberschurz aus dem Garten kommen.
Der Gegensatz zwischen den beiden jungen Leuten war auffallend. Sie so elegant. Er so ungepflegt.
Mit einem entwaffnenden Lächeln besänftigte Nofret den Zorn ihres Vaters.
»Vater, ich stelle dir den Schreiber Kamose vor. Er ist mein persönlicher Gast.«
»Ein Schreiber? In diesem Zustand? Er muss wirklich nachlässig sein…«
»Ein einfacher Vorfall«, erklärte Nofret. »Kamose ist gekommen, um dir ein Gesuch vorzutragen, das ich für berechtigt halte.«
Richter Rensi runzelte die Stirn. Noch nie hatte seine Tochter so klar für jemanden Partei ergriffen.
»Ist jetzt nicht eher eine Stunde zum Feiern, meine Tochter? Hältst du den Augenblick für angemessen, um über ernste Dinge zu reden?«
»Nein, mein Vater. Deshalb ist Kamose heute mein Ehrengast. Morgen werden wir reden.«
»Es ist zu spät, ihn angemessene Kleidung anziehen zu lassen«, bemerkte Rensi. »Möge er wenigstens einen sauberen Schurz anlegen.«
»Ich kümmere mich darum, mein Vater.«
Während sich Nofret in Begleitung von Kamose entfernte, blieb Richter Rensi ratlos stehen. Er hatte sich erträumt, seine Tochter mit einem Angehörigen des Königshauses zu verheiraten. Hatte sie nicht die vorzüglichen Eigenschaften einer künftigen Königin? Doch warum sollte ihm die Gegenwart dieses Jungen Sorgen machen? Sicherlich befriedigte Nofret nur eine einfache Laune. Aber dieses Argument konnte Rensi nicht beruhigen. Nofret war keine launische junge Frau. Wenn sie diesen Kamose auf offizielle Weise dem thebanischen Adel vorstellte, hatte sie ganz gewiss einen Hintergedanken.
Rensi befürchtete, ihn zu erraten.
Kamose ließ sich von den Gesängen, den Tänzen und den köstlichen Speisen zerstreuen. Der Barbier von Richter Rensi persönlich hatte ihn in einen neuen Schurz gekleidet und ihm die Haare in Ordnung gebracht. Seine bescheidene Erscheinung hatte ihm gegenüber den aufwändigen Gewändern der jungen thebanischen Adligen, von denen eines prachtvoller war als das andere, einen unerwarteten Vorteil beschert. Unwillentlich beeindruckte der junge Mann durch seine natürliche Stärke und seine unbestreitbare Ausstrahlungskraft.
Er blieb an der Seite Nofrets, auf der unaufhörlich mehr als zwanzig Blicke eifersüchtiger Verehrer lagen. Er lachte mit ihr, als sie sich gegenseitig von ihrer Kindheit erzählten. Kamose erzählte ihr von den zahlreichen Abenteuern eines kleinen Bauernsohns, der die Natur entdeckt, sich mit seinen Freunden prügelt und die Gesetze der Jahreszeiten und der Erde kennen lernt. Nofret berichtete ihm von ihrer erlesenen Erziehung, von der Langeweile, die diese ihr bisweilen verursacht hatte, und von ihrer Abneigung althergebrachten Konventionen gegenüber.
»Du wirst Schreiber«, sagte sie.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kamose.
»Willst du es aufgeben?«, fragte sie verwundert.
»Mein Ziel ist es, meinen Eltern ihr Glück zurückzugeben.«
»Das ist ein edles Ideal.«
Kamose sah sie zärtlich an.
»Wie lautet deines, Nofret?«
»Noch weiter in den geschlossenen Tempel vorzudringen. Ich kenne nur die ersten Räume. Ich weiß, dass es einen riesigen Säulensaal im Tempel von Karnak gibt, in dem alle Riten offenbart werden. Und es gibt noch andere Heiligtümer, weitere Lehren.«
»Der geschlossene Tempel«, seufzte Kamose. »Da wollte ich auch gerne hinein.«
»Gibst du das etwa auch auf? Warum bist du so verzweifelt? Wenn ich dich so sehe, hätte ich dich für mutiger gehalten!«
Der Vorwurf brachte Kamoses Blut in Wallung.
»Ich bin ein Bauernsohn! Das ist der Grund, weshalb ich aufgeben muss!«
»Deine Fantasie leitet dich in die Irre«, urteilte die junge Frau. »Der Irrtum liegt in deinem Herzen, Kamose, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt durchaus Bauernsöhne, die Schreiber geworden sind. Die Weisen von Karnak interessieren sich nur für die geistigen Eigenschaften der Menschen, nicht für ihre gesellschaftliche Stellung.«
»Mögen die Götter dafür sorgen, dass du Recht hast, Nofret! In diesem Falle werde ich es schaffen.«
Das Ende des Banketts rückte näher. Die Gespräche wurden vertraulicher. Die Musik war verstummt. Bald würde der Morgen grauen und die neue Sonne geboren werden.
»Ich habe Recht«, bekräftigte die junge Frau. »Vertraust du mir, Kamose?«
»Nein«, entgegnete dieser.
Nofret schrak zurück. Sie war verwundert, fast schockiert.
»Ich empfinde dir gegenüber sehr viel mehr als nur Vertrauen«, erklärte Kamose mit beeindruckendem Ernst. »Ich liebe dich, Nofret.«
Nofret und Kamose brachen auf, als die ersten Sonnenstrahlen den Garten der Villa in rotes Licht tauchten. Sie verließen das Anwesen durch eine Pforte, deren Wache eingeschlafen war, und wandten sich Richtung Wüste.
Dort befand sich ein großes Jagdareal, wohin Rensi seine Tochter gerne mitnahm, wenn er auf die Antilopen- und Gazellenjagd ging.
Die beiden jungen Leute liefen bis zu einem Palmenhain, in dessen Mitte ein Brunnen gegraben worden war. Selbst zu Zeiten großer Hitze war es an diesem Ort herrlich kühl.
Nofret kam oft hierher, um fern vom Treiben der Villa, die von ihren Verehrern belagert wurde, zu lesen und zu lernen. Es war angenehm, sich im Schatten der großen Palmen aufzuhalten.
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