«Ihr sterbt», sagte Melisande. «Ihr werdet verbluten.» Sie hockte sich neben ihn, und seine blutunterlaufenen Augen sahen verzweifelt zu ihr empor. «Und ich werde lachen, während Ihr sterbt», fügte sie hinzu.
Ein weiterer Schrei wurde laut. Er kam aus dem Dorf, und Melisande sah Fremde beim Tross. Leute rannten auf die Karren zu, und noch mehr kamen vom Fluss her. Es waren Leute aus der Gegend, mit Hauen und Äxten und Beilen, Bauern, die plündern wollten. Ein Mann hatte sie entdeckt und kam mit dem gleichen lüsternen Gesichtsausdruck auf sie zu, den sie an Sir Martin gesehen hatte.
Melisande war nackt.
Dann fiel ihr der Wappenrock wieder ein.
Sie warf einen letzten Blick auf Sir Martin, der im qualvollen Todeskampf lag, raffte ihren Beutel und seinen Lederbeutel mit den Münzen an sich, und dann sprang sie in den Fluss.
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Seigneur de Lanferelle fluchte. Zu seinen Füßen stöhnte und keuchte ein Mann mit eingedrücktem, blutverschmiertem Helmvisier. Sein linker Unterschenkel war abgehackt worden, und das Blut aus der Wunde floss in einem pulsierenden Strom auf die Leiche, die unter ihm lag. «Einen Priester», jammerte der Mann, «um der Liebe Christi willen, einen Priester.»
«Es gibt hier keine Priester», sagte Lanferelle wütend. Er hatte seine Keule fallen lassen, denn die Kampfaxt war eine grausamere Waffe, und Grausamkeit musste er anwenden, wenn er die drohende Katastrophe in einen Sieg verwandeln wollte. Die Franzosen, entkräftet nach ihrer Schinderei auf dem morastigen Boden und halb blind hinter ihren geschlossenen Visieren, waren für die Engländer leichte Beute gewesen, doch Lanferelle wusste, dass die Gegner mit ihrer dünn besetzten Kampflinie keine geschlossene Reihe mehr zwischen den beiden Wäldern aufstellen konnten. An den Flanken der Kampflinie standen Bogenschützen, und die Bogenschützen hatten seiner Einschätzimg zufolge keine Pfeile mehr. Er klappte sein beschädigtes Visier auf, indem er das verbogene Metall über den Rand den Helmes zerrte. «Wir gehen nach links», sagte er.
Keiner seiner Männer erwiderte etwas darauf. Die erste französische Kampfeinheit hatte sich etwa zwanzig Schritt zurückgezogen, und die Engländer waren, als gelte eine stille Vereinbarung, nicht nachgerückt. Beide Seiten waren erschöpft. Männer lehnten sich auf ihre Waffen, um zu Atem zu kommen. Zwischen den beiden Armeen erstreckte sich ein langgezogener Hügel aus Körpern in Rüstungen, es waren Tote und Verletzte. Viele von ihnen lagen übereinander. Die Rüstungen, die in der Nacht zuvor so lange abgerieben worden waren, bis sie strahlend glänzten, waren schartig aufgerissen, schlammverkrustet und blutig. Dazwischen lagen Banner im Schmutz, und einige Engländer sammelten die stolzen Flaggen auf und gaben sie hinter die Kampflinie weiter, wo die französischen Gefangenen zusammengetrieben wurden. Die Oriflamme, die als Zeichen des gnadenlosen Einsatzes über der Mitte der französischen Linie geweht hatte, war verschwunden.
Die Engländer gaben Schläuche mit Wasser oder Wein von Mann zu Mann weiter, und plötzlich fühlte sich Lanferelle wie ausgetrocknet. «Wo ist der Wein?», fragte er seinen Junker.
«Ich habe keinen, Seigneur. Ihr habt mir nicht befohlen, welchen aufs Feld zu nehmen.»
«Muss ich dir auch noch das Pissen befehlen? Bei Gott, du stinkst wie eine Abortgrube. Hast du dich vollgeschissen?»
Der Junker nickte mit jämmerlicher Miene. Er war nicht der Einzige, der sich in all dem Grauen selbst beschmutzt hatte, doch er zitterte unter Lanferelles Verachtung. «Wir gehen nach links!», rief Lanferelle erneut. Er hatte vergeblich versucht, sich bis zu Sir John durchzukämpfen, und nun plante er, seine Männer die leichtbewaffneten Bogenschützen angreifen zu lassen. Er sah, dass sie Keulen und Kampfäxte trugen, aber das war besser, als sich ihren Eibenbogen und Pfeilen stellen zu müssen. «Diese Schlacht ist nicht verloren», erklärte er seinen Leuten, «sie hat noch nicht einmal richtig angefangen! Sie haben keine Pfeile mehr! Also können wir diese Bastarde jetzt töten! Hört ihr? Wir töten sie!»
Trompeten erklangen am nördlichen Ende des Feldes. Die zweite französische Kampfeinheit, deren Rüstungen noch makellos strahlten und in deren Bannern kein einziger Pfeil steckte, rückte zu Fuß über den morastigen Acker vor, den die Pferde und die achttausend Franzosen des ersten Angriffs tief aufgewühlt hatten. Die zweite Kampfeinheit kam an der kleinen Gruppe englischer, französischer und burgundischer Herolde vorbei, die vom Saum des Waldes auf der Seite von Tramecourt gemeinsam den Ablauf der Schlacht verfolgten. Die Angreifer der zweiten französischen Einheit, die ebenfalls aus achttausend Feldkämpfern bestand, würde in einer Minute die Kampflinie erreicht haben. Lanferelle, der nicht von den anrückenden Männern nach vorne gedrängt werden wollte, bewegte sich in Richtung der französischen Flanke. Er hatte elf Feldkämpfer bei sich, und er vermutete, dass sie ausreichten, um in die Linie der Bogenschützen einzubrechen. Und wenn sie zu zwölft die Bogenschützen angriffen, würden andere ihrem Beispiel folgen. «Diese gottverdammten Bogenschützen sind nicht an den Feldwaffen ausgebildet», erklärte er seinen Männern. «Das sind alles nur Handwerker! Nichts als Schneider und Korbflechter! Sie hacken einfach nur mit Äxten um sich. Also greift sie nicht als Erste an. Lasst sie zuschlagen, dann wehrt ihr den Hieb ab und tötet sie. Habt ihr mich verstanden?»
Die Männer nickten. Sie hatten sehr gut verstanden, doch auf dem Acker stand das Blut, die Oriflamme war verschwunden, und mindestens zwölf hochstehende französische Adlige waren tot oder wurden vermisst. Lanferelle wusste, dass sie" nur siegen konnten, wenn die Männer an den Sieg glaubten. Also würde er ihnen diesen Glauben beibringen. Er würde die englische Linie durchbrechen, und er würde Frankreich einen Triumph verschaffen.
Die englischen Feldkämpfer sahen die nächste Angriffswelle heranrollen. Sie stellten sich auf und hoben ihre Waffen. Als die zweite französische, Kampfeinheit die erste erreicht hatte, brüllten die neu hinzugekommenen Kämpfer: «Saint Denis! Montjoie! Montjoie!»
«Sankt Georg!», gaben die Engländer zurück, und erneut wurde das Kriegsgeheul angestimmt, die Hohnrufe, mit denen die Männer ihre Gegner aufforderten, zum Sterben zu ihnen zu kommen.
Doch die zweite Kampflinie kam nicht bis zu den Engländern, weil ihnen die Uberlebenden der ersten im Wege waren, und so konnten sie diese Uberlebenden nur vorwärtsdrängen. Sie schoben die erschöpften Männer auf die Leichenhaufen zu und auf die englischen Klingen dahinter. Wieder erhob sich Schlachtenlärm, Stahl klang auf Stahl, die Sterbenden schrien, und schrille Trompetenklänge zerrissen die Luft, als achttausend neue französische Feldkämpfer die Kampflinie erreichten.
Und Lanferelle griff die Bogenschützen an.
Die Frauen und Diener flohen von den englischen Versorgungskarren und rannten den Hügel zum Schlachtfeld hinauf, während hinter ihnen Leibeigene und Bauern auf die Karren kletterten, um nach leichter Beute zu suchen.
Melisande wurde von dem Fluss mitgezogen, der nach den sintflutartigen Regenfällen der letzten Tage schnell, kalt und schlammig dahinschoss. Sie strampelte im Wasser und stieß sich von niedrig über das Wasser ragenden Ästen weg, bis sie den Wappenrock entdeckte, der sich in einem Weidenzweig verfangen hatte. Sie zerrte ihn herunter, und dann kämpfte sie sich durch das Gestrüpp und die Nesseln, die an der Uferböschung wuchsen. Sie zog den Wappenrock über den Kopf. Das nasse Leinen klebte kühl an ihrem Körper, aber es bedeckte ihre Nacktheit, und sie zwängte sich langsam zwischen Brombeerranken und Haselbüschen hindurch zurück Richtung Norden. Dann sah sie die Reiter.
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