Lottchen sitzt währenddem, in Luises schönstem Kleid, an die samtene Brüstung einer Rangloge der Wiener Staatsoper gepreßt und schaut mit brennenden Augen zum Orchester hinunter, wo Kapellmeister Palffy die Ouvertüre von »Hansel und Gretel« dirigiert.
Wie wundervoll Vati im Frack aussieht! Und wie die Musiker parieren, obwohl ganz alte Herren darunter sind! Wenn er mächtig mit dem Stock droht, spielen sie, so laut sie können. Und wenn er will, daß sie leiser sein sollen, dann säuseln sie wie der Abendwind. Müssen die vor ihm Angst haben! Dabei hat er vorhin so vergnügt zur Loge heraufgewinkt!
Die Logentür geht.
Eine elegante junge Dame rauscht herein, setzt sich an die Brüstung und lächelt dem aufblickenden Kind zu.
Lotte wendet sich schüchtern ab und schaut wieder zu, wie Vati die Musiker dressiert.
Die junge Dame holt ein Opernglas hervor. Und eine Konfektschachtel. Und ein Programm. Und eine Puderdose. Zuletzt sieht die Samtbrüstung wie ein Schaufenster aus.
Als die Ouvertüre zu Ende ist, klatscht das Publikum laut Beifall. Der Herr Kapellmeister Palffy verbeugt sich einige Male. Und dann sieht er, während er erneut den Dirigentenstab hebt, zur Loge empor.
Lotte winkt schüchtern mit der Hand. Vati lächelt noch zärtlicher als vorhin.
Da merkt Lotte, daß nicht nur sie mit der Hand winkt - sondern auch die Dame neben ihr!
Die Dame winkt Vati zu? Vati hat vielleicht ihretwegen so zärtlich gelächelt? Und gar nicht wegen seiner Tochter? Ja, und wieso hat Luise nichts von der fremden Frau erzählt? Kennt Vati sie noch nicht lange? Aber wie darf sie ihm dann so vertraulich zuwinken? Das Kind notiert im Gedächtnis: »Heute noch an Luise schreiben. Ob sie etwas weiß. Morgen vor der Schule zum Postamt. Postlagernd aufgeben: Vergißmeinnicht München 18.«
Und wie die Musiker parieren
Dann hebt sich der Vorhang, und das Schicksal Hansels und Gretels fordert die gebührende Anteilnahme. Lottchens Atem geht stockend. Da unten schicken die Eltern ihre zwei Kinder in den Wald, um sie loszuwerden. Dabei haben sie die Kinder doch lieb! Wie können sie dann so böse sein? Oder sind sie gar nicht böse? Ist nur das, was sie tun, böse? Sie sind traurig darüber. Warum machen sie es dann?
Lottchen, der halbierte und vertauschte Zwilling, gerät in wachsende Erregung. Ohne sich dessen bewußt zu werden, gilt der Widerstreit ihrer Gefühle immer weniger den beiden Kindern und Eltern dort unten auf der Bühne, immer mehr ihr selber, der Zwillingsschwester und den eigenen Eltern. Durften diese tun, was sie getan haben? Ganz gewiß ist Mutti keine böse Frau, und auch der Vater ist bestimmt nicht bös. Doch was sie taten, das war böse! Der Holzhauer und seine Frau waren so arm, daß sie kein Brot für die Kinder kaufen konnten. Aber Vati? War der so arm gewesen?
Als später Hansel und Gretel vor dem knusprigen Pfefferkuchenhaus ankommen, daran herumknabbern und vor der Hexenstimme erschrecken, beugt sich Fräulein Irene Gerlach, so heißt die elegante Dame, zu dem Kind hinüber, schiebt ihm die Konfektschachtel zu und flüstert: »Willst du auch ein bißchen knuspern?«
Lottchen zuckt zusammen, blickt auf, sieht das Frauengesicht vor sich und macht eine wild abwehrende Geste. Dabei fegt sie leider die Konfektschachtel von der Brüstung, und unten im Parkett regnet’s vorübergehend, wie aufs Stichwort, Pralinen! Köpfe wenden sich nach oben. Gedämpftes Lachen mischt sich in die Musik. Fräulein Gerlach lächelt halb verlegen, halb ärgerlich.
Das Kind wird ganz steif vor Schreck. Es ist mit einem Schlag aus dem gefährlichen Zauber der Kunst herausgerissen worden. Es befindet sich mit einem Schlag im gefährlichen Bereich der Wirklichkeit.
»Entschuldigen Sie, bitte, vielmals«, wispert Lottchen.
Die Dame lächelt verzeihend. »Oh, das macht nix, Luiserl«, sagt
sie.
Ob das auch eine Hexe ist? Eine schönere als die auf der Bühne?
Luise liegt zum erstenmal in München im Bett. Die Mutter sitzt auf der Bettkante und sagt: »So, mein Lottchen, nun schlaf gut! Und träum was Schönes!«
»Wenn ich nicht zu müd dazu bin«, murmelt das Kind. »Kommst du auch bald?«
An der Gegenwand steht ein größeres Bett. Auf der zurückgeschlagenen Decke liegt Muttis Nachthemd, parat zum Hineinschlüpfen.
»Gleich«, sagt die Mutter. »Sobald du eingeschlafen bist.«
Das Kind schlingt die Arme um ihren Hals und gibt ihr einen Kuß. Dann noch einen. Und einen dritten. »Gute Nacht!«
Die junge Frau drückt das kleine Wesen an sich. »Ich bin so froh, daß du wieder daheim bist«, flüstert sie. »Ich hab’ ja nur noch dich!«
Der Kopf des Kindes sinkt schlaftrunken zurück. Luiselotte Palffy, geb. Körner, stopft das Deckbett zurecht und lauscht eine Weile auf die Atemzüge ihrer Tochter. Dann steht sie behutsam auf. Und auf Zehenspitzen geht sie ins Wohnzimmer zurück.
Unter der Stehlampe liegt die Aktenmappe. Es gibt noch so viel zu tun.
Lotte ist zum erstenmal von der mürrischen Resi ins Bett gebracht worden. Anschließend ist sie heimlich wieder aufgestanden und hat den Brief geschrieben, den sie morgen früh zum Postamt bringen will. Dann hat sie sich leise in Luisens Bett zurückgeschlichen und, bevor sie das Licht ausknipste, das Kinderzimmer noch einmal in aller Ruhe betrachtet.
Es ist ein geräumiger hübscher Raum mit Märchenfriesen an den Wänden, mit einem Spielzeugschrank, mit einem Bücherbord, einem Schreibpult für die Schularbeiten, einem großen Kaufmannsladen, einer zierlichen altmodischen Frisiertoilette, einem Puppenwagen, einem Puppenbett, nichts fehlt, bis auf die Hauptsache!
Hat sie sich nicht manchmal - ganz im stillen, damit Mutti es nur ja nicht merke - so ein schönes Zimmer gewünscht? Nun sie es hat, bohrt sich ihr ein spitzer, von Sehnsucht und Neid scharfgeschliffener Schmerz ins Gemüt. Sie sehnt sich nach dem kleinen bescheidenen Schlafzimmer, wo jetzt die Schwester liegt, nach Muttis Gutenachtkuß, nach dem Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer herüberzwinkert, wo Mutti noch arbeitet, danach, daß dann leise die Tür geht, daß sie hört, wie Mutti am Kinderbett stehenbleibt, auf Zehenspitzen zum eigenen Bett hinüberhuscht, ins Nachthemd schlüpft und sich in ihre Decke kuschelt.
Wenn hier, wenigstens im Nebenzimmer, Vatis Bett stünde! Vielleicht würde er schnarchen. Das wäre schön! Da wüßte man, daß er ganz in der Nähe ist! Aber er schläft nicht in der Nähe, sondern in einem anderen Haus, am Kärntner Ring. Vielleicht schläft er überhaupt noch nicht, sondern sitzt mit dem eleganten Pralinenfräulein in einem großen, glitzernden Saal, trinkt Wein, lacht, tanzt mit ihr, nickt ihr zärtlich zu wie vorhin in der Oper, ihr, nicht dem kleinen Mädchen, das glücklich und verstohlen aus der Loge winkte.
Lotte schläft ein. Sie träumt. Das Märchen von den armen Eltern, die, weil sie kein Brot hatten, Hansel und Gretel in den Wald schickten, mischt sich mit eignen Ängsten und eignem Jammer.
Lotte und Luise sitzen in diesem Traum mit erschrockenen Augen in einem gemeinsamen Bett und starren auf eine Tür, durch die viele weißbemützte Bäcker kommen und Brote hereinschleppen. Sie schichten die Brote an den Wänden auf. Immer mehr Bäcker kommen und gehen. Die Brotberge wachsen. Das Zimmer wird immer enger.
Dann steht der Vater da, im Frack, und dirigiert die Bäckerparade mit lebhaften Gesten. Mutti kommt hereingestürzt und fragt bekümmert: »Aber, Mann, was soll denn nun werden?«
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