Die Vorbereitungen auf die zukünftigen Abenteuer waren gründlich. Die Oktavhefte sind randvoll von Notizen. Man wird einander postlagernd schreiben, wenn Not am Mann ist oder wenn wichtige unvorhergesehene Ereignisse eintreten sollten.
Vielleicht wird es ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit am Ende sogar gelingen, zu enträtseln, warum die Eltern getrennt leben? Und vielleicht werden sie dann eines schönen, eines wunderschönen Tages miteinander und mit beiden Eltern - doch so weit wagen sie kaum zu denken, geschweige denn, darüber zu sprechen.
Das Gartenfest am Vorabend der Abreise ist als Generalprobe vorgesehen. Lotte kommt als lockige, quirlige Luise. Luise erscheint als brave, bezopfte Lotte. Und beide spielen ihre Rollen ausgezeichnet. Niemand merkt etwas! Nicht einmal Trude, Luises Schulkameradin aus Wien! Es macht beiden einen Mordsspaß, einander laut beim eigenen verschenkten Vornamen zu rufen. Lotte schlägt vor Übermut Purzelbäume. Und Luise tut so sanft und still, als könne sie kein Härchen trüben und kein Wässerchen krümmen.
Die Lampions schimmern in den Sommerbäumen. Die Girlanden schaukeln im Abendwind. Das Fest und die Ferien gehen zu Ende. An der Tombola werden die Gewinne verteilt. Steffie, das arme Hascherl, gewinnt den ersten Preis, die Rollschuhe mit Kugellagern. (Besser ein schwacher Trost als gar keiner!)
Die Schwestern schlafen schließlich, ihren Rollen getreu, in den vertauschten Betten und träumen vor Aufregung wilde Dinge. Lotte beispielsweise wird in Wien am Bahnsteig von einer überlebensgroßen Fotografie ihres Vater abgeholt, und daneben steht ein weißbemützter Hotelkoch mit einem Schubkarren voll gefüllter dampfender Palatschinken - brr!
Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe, fahren in der Bahnstation Egern, bei Seebühl am Bühlsee, zwei aus entgegengesetzten Richtungen kommende Züge ein. Dutzende kleiner Mädchen klettern schnatternd in die Abteile.
Lotte beugt sich weit aus dem Fenster. Aus einem Fenster des anderen Zugs winkt Luise. Sie lächeln einander Mut zu. Die Herzen klopfen. Das Lampenfieber wächst. Wenn jetzt nicht die
Lokomotiven zischten und spuckten - die kleinen Mädchen würden vielleicht im letzten Moment doch noch - .
Aber nein, der Fahrplan hat das Wort. Der Stationsvorsteher hebt sein Zepter. Die Züge setzen sich gleichzeitig in Bewegung. Kinderhände winken.
Lotte fährt als Luise nach Wien
Ein Kind auf einem Koffer - Die einsamen Onkeln im »Imperial« - Von Peperl und dem untrüglichen Instinkt der Tiere - »Luise« fragt, ob sie in der Oper winken darf - Rechenfehler im Haushaltsbuch - Shirley Temple durfte sich ihre eigenen filme nicht ansehen - Herrn Kapellmeister Palffys kompliziertes Innenleben
München. Hauptbahnhof, Bahnsteig 16. Die Lokomotive steht still und ringt nach Luft. In dem Strom der Reisenden haben sich Inseln des Wiedersehens gebildet. Kleine Mädchen umhalsen ihre strahlenden Eltern. Man vergißt vor lauter selig gerührtem Schwadronieren, daß man ja erst auf dem Bahnhof und noch gar nicht daheim ist!
Allmählich wird der Bahnsteig aber doch leer.
Und zum Schluß steht nur noch ein einziges Kind da, ein Kind mit Zöpfen und Zopfschleifen. Bis gestern trug es Locken. Bis gestern hieß es Luise Palffy.
Das kleine Mädchen hockt sich schließlich auf den Koffer und beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof einer fremden Stadt auf seine Mutter zu warten, die man nur als Fotografie kennt und die nicht kommt - das ist kein Kinderspiel!
Frau Luiselotte Palffy, geborene Körner, die sich seit sechseinhalb Jahren (seit ihrer Scheidung) wieder Luiselotte Körner nennt, ist im Verlag der »Münchner Illustrierten«, wo sie als Bildredakteurin angestellt ist, durch neu eingetroffenes Material für die aktuellen Seiten aufgehalten worden.
Endlich hat sie ein Taxi ergattert. Endlich hat sie eine Bahnsteigkarte erkämpft. Endlich hat sie im Dauerlauf Bahnsteig 16 erreicht.
Der Bahnsteig ist leer.
Nein! Ganz, ganz hinten sitzt ein Kind auf einem Koffer! Die junge Frau rast wie die Feuerwehr den Bahnsteig entlang!
Einem kleinen Mädchen, das auf einem Koffer hockt, zittern die Knie. Ein ungeahntes Gefühl ergreift das Kinderherz. Diese junge, glückstrahlende, diese wirkliche, wirbelnde, lebendige Frau ist ja die Mutter!
»Mutti!«
Luise stürzt der Frau entgegen und springt ihr, die Arme hochwerfend, an den Hals.
»Mein Hausmütterchen«, flüstert die junge Frau unter Tränen. »Endlich, endlich hab’ ich dich wieder!«
Der kleine Kindermund küßt leidenschaftlich ihr weiches Gesicht, ihre zärtlichen Augen, ihre Lippen, ihr Haar, ihr schickes Hütchen. Ja, das Hütchen auch!
Sowohl im Restaurant, der Schwemme, wie in der Küche des Hotels »Imperial« in Wien herrscht wohlwollende Aufregung. Der Liebling der Stammgäste und der Angestellten, die Tochter des
Opernkapellmeisters Palffy, ist wieder da!
Lotte, pardon, Luise, sitzt, wie es alle gewohnt sind, auf dem angestammten Stuhl mit den zwei hohen Kissen und ißt mit Todesverachtung gefüllte Palatschinken.
Die Stammgäste kommen, einer nach dem andern, zum Tisch, streicheln dem kleinen Mädchen über die Locken, klopfen ihm zärtlich auf die Schulter, fragen, wie es ihm im Ferienheim gefallen hat, meinen, in Wien beim Papa sei’s aber doch wohl am schönsten, legen allerlei Geschenke auf den Tisch: Zuckerln, Schokolade, Pralinen, Buntstifte, ja einer holt sogar ein kleines, altmodisches Nähzeug aus der Tasche und sagt verlegen, es sei noch von seiner Großmutter selig - dann nicken sie dem Kapellmeister zu und wandern an ihre Tische zurück. Heute wird ihnen das Essen endlich wieder richtig schmecken, den einsamen Onkeln!
Am besten schmeckt’s freilich dem Herrn Kapellmeister selber. Ihm, der sich immer aufs Einsamseinmüssen aller »wahren Künstlernaturen« so viel zugute getan und der seine verflossene Ehe stets für einen Fehltritt ins Bürgerliche gehalten hat, ihm ist heute höchst »unkünstlerisch« warm und familiär ums Herz. Und als die Tochter schüchtern lächelnd seine Hand ergreift, als habe sie Angst, der Vater könnte ihr sonst womöglich davonlaufen, da hat er wahrhaftig, obwohl er Beinfleisch und keineswegs Knödel verspeist, einen Kloß im Hals!
Ach, und da kommt der Kellner Franz schon wieder mit einer neuen Palatschinke angewedelt!
Lotte schüttelt die Locken. »Ich kann nimmer, Herr Franz!«
»Aber, Luiserl!« meint der Kellner vorwurfsvoll. »Es ist doch erst die fünfte!«
Nachdem der Herr Franz leicht bekümmert mitsamt der fünften Palatschinke in die Küche zurückgesegelt ist, nimmt sich Lotte ein Herz und sagt: »Weißt du was, Vati - ab morgen esse ich immer das, was du ißt!«
»Nanu!« ruft der Herr Kapellmeister. »Und wenn ich nun Geselchtes esse? Das kannst du doch nicht ausstehen! Da wird dir doch übel!«
»Wenn du Geselchtes ißt«, meint sie zerknirscht, »kann ich ja wieder Palatschinken essen.« (Es ist halt doch nicht ganz so einfach, seine eigene Schwester zu sein!) Und nun?
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