Die Begrüßung der beiden Schwestern fiel sehr viel weniger herzlich aus.
»Komm mit nach draußen«, sagte Kayley zu Pippa, nachdem sie sich Henrys Großeltern vorgestellt hatte.
Während sie über den Strand zum Ufer gingen, hielt Kayley Pippa eine ordentliche Standpauke.
»Du musst wahnsinnig geworden sein. Die Polizei war da und die Carkers haben Gift und Galle gespuckt. Ich hab gedacht, du hättest nur vergessen, die Alarmanlage einzuschalten, aber dass du die Hunde absichtlich rausgelassen hast …«
»Ich weiß«, sagte Pippa. »Aber ich hab einfach nur rotgesehen. Sie haben so traurig ausgeschaut, als Henry mit Fleck gegangen war … ich konnte es nicht ertragen.«
»Das ist ja alles gut und schön, aber was machen wir jetzt? Bei Henrys Großeltern können sie unmöglich bleiben. Was soll denn aus ihnen werden? Wenn wir sie zu Rent-a-Dog zurückbringen, kommt heraus, dass du es warst und …«
»Das können wir nicht!«, unterbrach sie Pippa. »Wir können sie auf gar keinen Fall zurückbringen und in diese grässlichen Käfige sperren.«
»Und wo willst du ein Zuhause für sie finden?«
Pippa schaute nachdenklich die vier Hunde an, die ihnen zum Strand gefolgt waren.
»Sie haben ihr Zuhause bereits gefunden, Kayley. Alle vier. Sie sind nur mit hergekommen, um zu sehen, ob Fleck auch in Sicherheit ist. Sie haben jeder ein Heim und eine Arbeit und einen Herrn gefunden.«
»Was meinst du damit?«, fragte Kayley.
Und Pippa erzählte es ihr.
Am nächsten Morgen fuhren sie sehr früh ab. Mr Naryan war Buddhist und es störte ihn überhaupt nicht, seinen Rolls-Royce mit lauter Hunden zu teilen. Buddha sah jedes Lebewesen als heilig an und so machte es für Mr Naryan auch keinen Unterschied, ob sich nun ein Geschäftsmann oder ein Bernhardiner auf den makellosen cremefarbenen Sitzen niederließ.
Fleck hatte sich ausgiebig von Otto, Honey, Francine und Li-Chee verabschiedet. Doch der kleine Mischling war deswegen nicht etwa traurig. Er hatte sofort begriffen, dass Henry und er zu diesem Haus am Meer gehörten, und als die anderen in Mr Naryans Wagen stiegen, drehte er sich um, lief zurück in die Küche und ließ sich zufrieden neben der alten Meg vor dem Kamin nieder.
Für Henry war der Abschied nicht ganz so leicht. Pippa und er kannten sich zwar noch nicht sehr lange, doch die gemeinsamen Abenteuer hatten sie zusammengeschweißt. Pippa konnte er immerhin schreiben und sie anrufen, doch sich von den Hunden zu trennen fiel ihm schwer.
Kayley tröstete ihn.
»Du wirst sie wiedersehen, Henry. Wenn du mit jemandem so viel durchgemacht hast, egal ob mit einem Menschen oder mit einem Hund, dann verschwindet er nie ganz aus deinem Leben.«
Zuerst fuhren sie zum Kloster. Als der Wagen langsamer wurde, stieß Otto wehklagende Laute aus und presste seine Schnauze an die Scheibe. Sie hielten vor dem Eingang und ließen ihn heraus. Pippa und Kayley begleiteten ihn zum Tor. Pippa streckte die Hand aus, um am Glockenstrang zu ziehen, da öffnete sich schon die Tür und Bruder Malcolm stand da und hieß sie mit einem Lächeln willkommen.
Doch nun verlief alles anders als geplant. Pippa hatte erwartet, dass Otto sofort die Treppe hinauflaufen würde, aber stattdessen machte er kehrt und galoppierte um das Kloster herum.
»Er ist im Garten«, sagte Bruder Malcolm.
»Wir schauen wohl besser nach ihm«, sagte Kayley.
Die Mädchen liefen an den Kräuterbeeten vorbei in den Obstgarten und dort bot sich ihnen ein ungewohnter Anblick. Der Abt von St. Roc lag rücklings im Gras wie ein gefällter Baum. Und über, neben, auf ihm war Otto, mal leckte er dem Abt übers Gesicht, mal bellte er vor Freude, mal setzte er sich einfach auf ihn drauf.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Pippa.
Der Abt antwortete nicht. Er hob nur den Arm ein wenig. Sei es, dass er die Kinder segnen oder grüßen wollte, oder weil es das einzige Körperteil war, das Otto noch nicht mit Beschlag belegt hatte.
Die Mädchen fragten nicht noch einmal. Wenn irgendetwas in Ordnung war, dann hier. Sie drehten sich um und gingen zurück zum Wagen.
Selby, der alte Schafhirte, war dabei, seine Habseligkeiten in den Umzugwagen zu laden. Es waren nicht allzu viele. Sein Zimmer in Rosewood war klein und bereits mit dem Nötigsten ausgestattet. Aber erst einmal hatte er alles, was er nicht mehr brauchte, zu einem Haufen getürmt, den er verbrennen wollte. Nun holte er seinen Hirtenstab und legte ihn als letztes Stück obendrauf. Billy sollte zu einem Bauern aus dem Nachbartal kommen. Unglücklich tappte der alte Hund hinter seinem Herrchen her, in seinen Augen stand Angst und von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und heulte.
Und doch war es Billy, der zuerst den fremden Wagen hörte, der auf die Hütte zufuhr. Er spitzte die Ohren, und als die Tür sich öffnete, kläffte er laut.
»Lauf, Honey«, sagte Pippa. »Nur zu, es ist in Ordnung.«
Die Colliehündin sprang aus dem Wagen, kehrte noch einmal kurz zurück und war dann verschwunden.
Pippa folgte ihr und hielt bestürzt inne, als sie den Umzugswagen und das Lagerfeuer sah.
»Ach, herrje«, sagte sie zu dem Hirten. »Sie ziehen aus? Wir hatten gehofft, Honey könnte bei Ihnen bleiben, aber wenn das so ist …«
Der alte Selby beugte sich zu Honey hinunter und kraulte sie zwischen den Ohren.
Dann richtete er sich auf und lächelte. »Nein, ich ziehe nicht aus. Ich bleibe hier, wo ich hingehöre.«
Er ging zu dem Lagerfeuer und zog seinen Stab heraus, dann ging er hinüber zu dem Fahrer des Umzugswagen.
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Selby. »Sie müssen ohne mich losfahren.«
Der Fahrer sah ihn an und wollte etwas sagen, alte Leute sind oft etwas wirr im Kopf.
Doch dann schaute er den alten Schäfer noch einmal genau an. Als er ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er ihn für einen Mann gehalten, der dem Tod näher stand als dem Leben, doch plötzlich schien er verändert zu sein. Er sah kein bisschen alt aus. Der Fahrer zuckte mit den Schultern und startete den Motor.
»Komm, Honey«, sagte Selby. »Es wartet eine Menge Arbeit auf uns.« Sie erwischten den Zirkus gerade noch rechtzeitig, bevor er seine Zelte in Todcaster abbrach. Das große Zelt war schon abgebaut, Lkws wurden beladen.
Kaum, dass Mr Naryan den Rolls-Royce angehalten hatte, sprang Francine laut bellend aus dem Wagen. Kayley und Pippa liefen hinter ihr her zu einem der Wohnwagen. Ein schwarzer Schatten stürzte heraus und schon standen Rupert und Francine auf ihren Hinterbeinen und tanzten und drehten sich umeinander und konnten sich vor Freude kaum beruhigen.
Nun erschien im Wohnwagen ein dünner Mann mit Baskenmütze und stellte sich als Petroc vor.
»Das muss die Hündin sein, von der George mir erzählt hat. Francine, nicht wahr?«, fragte er mit einem leichten ausländischen Akzent.
»Ja, das ist sie«, sagte Pippa. »Wir wollten fragen, ob sie bei Ihnen bleiben kann.«
Petroc seufzte. »Schön wär’s. Sie hätte in meiner Nummer ›Petrocs Pudel‹ auftreten können. Es ist die beste Hundenummer der Welt«, sagte er stolz. »Aber so ein Hund ist viel Geld wert und ich bin arm, also kann daraus nichts werden.«
»Wir wollen kein Geld«, sagte Kayley schnell. »Wir wollen nur, dass sie glücklich ist.«
Petroc sah versonnen auf Francine, die sich mit Rupert im Gras wälzte. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Sie ist jetzt schon glücklich, glaube ich. Jawohl, ich kenne Hunde, und dieser hier ist glücklich, sehr glücklich sogar.«
Doch Francine vergaß nicht, was sich gehörte. Sie gab zuerst Kayley, dann Pippa ihre Pfote, bevor sie Rupert in den Wohnwagen und in ein neues Leben folgte.
Alle Hunde bis auf Li-Chee waren nun fort und der Pekinese wurde unruhig. Als Otto im Kloster geblieben war, hatte er mitleiderregend gewinselt. Nun saß er auf Pippas Schoß und starrte sie ängstlich aus großen Augen an. Wo waren denn alle? Hatte man ihn vergessen?
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