Er ist tatsächlich verrückt, denn er muss durch die Feuerwand; – aber es ist dieser Blitz, der irgendwo über uns allen lauert, der in ihn eingeschlagen ist und ihn besessen macht. Bei andern ist es so, dass sie zu toben anfangen, dass sie wegrennen, ja einer war da, der sich mit Händen und Füßen und Mund immerfort in die Erde einzugraben versuchte.
Es wird natürlich auch viel simuliert mit solchen Sachen, aber das Simulieren ist ja eigentlich auch schon ein Zeichen. Berger, der den Hund erledigen will, wird mit einem Beckenschuss weggeholt, und einer der Leute, die es tun, kriegt sogar dabei noch eine Gewehrkugel in die Wade.
* * *
Müller ist tot. Man hat ihm aus nächster Nähe eine Leuchtkugel in den Magen geschossen. Er lebte noch eine halbe Stunde bei vollem Verstande und furchtbaren Schmerzen. Bevor er starb, übergab er mir seine Brieftasche und vermachte mir seine Stiefel – dieselben, die er damals von Kemmerich geerbt hat. Ich trage sie, denn sie passen mir gut. Nach mir wird Tjaden sie bekommen, ich habe sie ihm versprochen.
Wir haben Müller zwar begraben können, aber lange wird er wohl nicht ungestört bleiben. Unsere Linien werden zurückgenommen. Es gibt drüben zu viele frische englische und amerikanische Regimenter. Es gibt zuviel Corned beef und weißes Weizenmehl. Und zuviel neue Geschütze. Zuviel Flugzeuge.
Wir aber sind mager und ausgehungert. Unser Essen ist so schlecht und mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, dass wir krank davon werden. Die Fabrikbesitzer in Deutschland sind reiche Leute geworden – uns zerschrinnt die Ruhr die Därme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; – man sollte den Leuten zu Hause diese grauen, gelben, elenden, ergebenen Gesichter hier zeigen, diese verkrümmten Gestalten, denen die Kolik das Blut aus dem Leibe quetscht und die höchstens mit verzerrten, noch schmerzbebenden Lippen sich angrinsen: »Es hat gar keinen Zweck, die Hose wieder hochzuziehen – «
Unsere Artillerie ist ausgeschossen – sie hat zuwenig Munition – , und die Rohre sind so ausgeleiert, dass sie unsicher schießen und bis zu uns herüberstreuen. Wir haben zuwenig Pferde. Unsere frischen Truppen sind blutarme, erholungsbedürftige Knaben, die keinen Tornister tragen können, aber zu sterben wissen. Zu Tausenden. Sie verstehen nichts vom Kriege, sie gehen nur vor und lassen sich abschießen. Ein einziger Flieger knallte aus Spaß zwei Kompanien von ihnen weg, ehe sie etwas von Deckung wussten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.
»Deutschland muss bald leer sein«, sagt Kat.
Wir sind ohne Hoffnung, dass einmal ein Ende sein könnte. Wir denken überhaupt nicht so weit. Man kann einen Schuss bekommen und tot sein; man kann verletzt werden, dann ist das Lazarett die nächste Station. Ist man nicht amputiert, dann fällt man über kurz oder lang einem dieser Stabsärzte in die Hände, die das Kriegsverdienstkreuz im Knopfloch, einem sagen: »Wie, das bisschen verkürzte Bein? An der Front brauchen Sie nicht zu laufen, wenn Sie Mut haben. Der Mann ist k.v.* Wegtreten!«
Kat erzählt eine der Geschichten, die die ganze Front von den Vogesen bis Flandern entlanglaufen, – von dem Stabsarzt, der Namen vorliest auf der Musterung und, wenn der Mann vortritt, ohne aufzusehen, sagt: »K.v. Wir brauchen Soldaten draußen.« Ein Mann mit Holzbein tritt vor, der Stabsarzt sagt wieder: k.v. – »Und da«, Kat hebt die Stimme, »sagt der Mann zu ihm: >Ein Holzbein habe ich schon; aber wenn ich jetzt hinausgehe und wenn man mir den Kopf abschießt, dann lasse ich mir einen Holzkopf machen und werde Stabsarzt!<���« – Wir sind alle tief befriedigt über diese Antwort.
Es mag gute Ärzte geben, und viele sind es; doch einmal fällt bei den hundert Untersuchungen jeder Soldat einem dieser zahlreichen Heldengreifer in die Finger, die sich bemühen, auf ihrer Liste möglichst viele a.v*. und g.v*. in k.v. zu verwandeln.
Es gibt manche solcher Geschichten, sie sind meistens noch viel bitterer. Aber sie haben trotzdem nichts mit Meuterei und Miesmachen zu tun; sie sind ehrlich und nennen die Dinge beim Namen; denn es besteht sehr viel Betrug, Ungerechtigkeit und Gemeinheit beim Kommiss. Ist es nicht viel, dass trotzdem Regiment auf Regiment in den immer aussichtsloser werdenden Kampf geht und dass Angriff auf Angriff erfolgt bei zurückweichender, zerbröckelnder Linie?
Die Tanks sind vom Gespött zu einer schweren Waffe geworden. Sie kommen, gepanzert, in langer Reihe gerollt und verkörpern uns mehr als anderes das Grauen des Krieges.
Die Geschütze, die uns das Trommelfeuer herüberschicken, sehen wir nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir – aber diese Tanks sind Maschinen, ihre Kettenbänder laufen endlos wie der Krieg, sie sind die Vernichtung, wenn sie fühllos in Trichter hineinrollen und wieder hochklettern, unaufhaltsam, eine Flotte brüllender, rauchspeiender Panzer, unverwundbare, Tote und Verwundete zerquetschende Stahltiere – Wir schrumpfen zusammen vor ihnen in unserer dünnen Haut, vor ihrer kolossalen Wucht werden unsere Arme zu Strohhalmen und unsere Handgranaten zu Streichhölzern.
Granaten, Gasschwaden und Tankflottillen – Zerstampfen, Zerfressen, Tod.
Ruhr, Grippe, Typhus – Würgen, Verbrennen, Tod. Graben, Lazarett, Massengrab – mehr Möglichkeiten gibt es nicht.
Bei einem Angriff fällt unser Kompanieführer Bertinck. Er war einer dieser prachtvollen Frontoffiziere, die in jeder brenzligen Situation vorne sind. Seit zwei Jahren war er bei uns, ohne dass er verwundet wurde, da musste ja endlich etwas passieren. Wir sitzen in einem Loch und sind eingekreist. Mit den Pulverschwaden weht der Gestank von Öl oder Petroleum herüber. Zwei Mann mit einem Flammenwerfer werden entdeckt, einer trägt auf dem Rücken den Kasten, der andere hat in den Händen den Schlauch, aus dem das Feuer spritzt. Wenn sie so nahe herankommen, dass sie uns erreichen, sind wir erledigt, denn zurück können wir gerade jetzt nicht. Wir nehmen sie unter Feuer. Doch sie arbeiten sich näher heran, und es wird schlimm. Bertinck liegt mit uns im Loch. Als er merkt, dass wir nicht treffen, weil wir bei dem scharfen Feuer zu sehr auf Deckung bedacht sein müssen, nimmt er ein Gewehr, kriecht aus dem Loch und zielt, liegend aufgestützt. Er schießt – im selben Moment schlägt eine Kugel bei ihm klatschend auf, er ist getroffen. Doch er bleibt liegen und zielt weiter – einmal setzt er ab und legt dann aufs neue an; endlich kracht der Schuss. Bertinck lässt das Gewehr fallen, sagt: »Gut«, und rutscht zurück. Der hinterste der beiden Flammenwerfer ist verletzt, er fällt, der Schlauch rutscht dem andern weg, das Feuer spritzt nach allen Seiten, und der Mann brennt.
Bertinck hat einen Brustschuss. Nach einer Weile schmettert ihm ein Splitter das Kinn weg. Der gleiche Splitter hat noch die Kraft, Leer die Hüfte aufzureißen. Leer stöhnt und stemmt sich auf die Arme, er verblutet rasch, niemand kann ihm helfen. Wie ein leerlaufender Schlauch sackt er nach ein paar Minuten zusammen. Was nützt es ihm nun, dass er in der Schule ein so guter Mathematiker war.
* * *
Die Monate rücken weiter. Dieser Sommer 1918 ist der blutigste und der schwerste. Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau unfassbar über dem Ring der Vernichtung. Jeder hier weiß, dass wir den Krieg verlieren. Es wird nicht viel darüber gesprochen, wir gehen zurück, wir werden nicht wieder angreifen können nach dieser großen Offensive, wir haben keine Leute und keine Munition mehr.
Doch der Feldzug geht weiter – das Sterben geht weiter – Sommer 1918 – Nie ist uns das Leben in seiner kargen Gestalt so begehrenswert erschienen wie jetzt; – der rote Klatschmohn auf den Wiesen unserer Quartiere, die glatten Käfer an den Grashalmen, die warmen Abende in den halbdunklen, kühlen Zimmern, die schwarzen, geheimnisvollen Bäume der Dämmerung, die Sterne und das Fließen des Wassers, die Träume und der lange Schlaf – o Leben, Leben, Leben!
Читать дальше
Конец ознакомительного отрывка
Купить книгу