Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Bärte wehen im Winde. Ich weiß nichts von ihnen, als dass sie Gefangene sind, und gerade das erschüttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; – wüsste ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten, was sie bedrückt, so hätte meine Erschütterung ein Ziel und könnte zu Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein Befehl könnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird ein Schriftstück von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt, und jahrelang ist unser höchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der Welt und ihre höchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den Apostelbärten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem Schüler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch würden wir wieder auf sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wären.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als Daseinsmöglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine Aufgabe für das Leben nachher, würdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe sie den Russen. Sie verneigen sich und zünden sie an. Nun glimmen in einigen Gesichtern rote Punkte. Sie trösten mich; es sieht aus, als wären es kleine Fensterchen in dunklen Dorfhäusern, die verraten, dass dahinter Zimmer voll Zuflucht* sind.
* * *
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe begraben; es sterben ja jetzt fast täglich welche. Ich bin gerade auf Wache, als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral*, sie singen vielstimmig, und es klingt, als wären es kaum noch Stimmen, als wäre es eine Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den Birkenwäldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzählt, dass er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hört, dass ich etwas Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
Die andern setzen sich und lehnen die Rücken an das Gitter. Er steht und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus und lächelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle Hügel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein schlankes Mädchen darüber und ist hell und allein. Die Stimmen hören auf, und die Geige bleibt – sie ist dünn in der Nacht, als friere sie; man muss dicht danebenstehen, es wäre in einem Raum wohl besser; – hier draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
* * *
Ich bekomme keinen Urlaub über Sonntag, weil ich ja erst größeren Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein Vater und meine älteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden quälen sich hin; wir wissen nicht, worüber wir reden sollen. So sprechen wir über die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs, sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnächst operiert. Die Ärzte hoffen, dass sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehört, dass Krebs geheilt worden ist.
»Wo liegt sie denn?« frage ich.
»Im Luisenhospital«, sagt mein Vater.
»In welcher Klasse?«
»Dritter. Wir müssen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hätte sie etwas Unterhaltung. Es ist auch billiger.«
»Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts schlafen kann.«
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen, wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld für uns gekostet, und das Leben meines Vaters ist eigentlich darüber hingegangen. »Wenn man bloß wüsste, wieviel die Operation kostet«, sagt er.
»Habt ihr nicht gefragt?«
»Nicht direkt; das kann man nicht – wenn der Arzt dann unfreundlich wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll.«
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar darüber; aber die andern, die es nicht nötig haben, die finden es selbstverständlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt auch nicht unfreundlich sein.
»Die Verbände hinterher sind auch so teuer«, sagt mein Vater.
»Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?« frage ich.
»Mutter ist schon zu lange krank.«
»Habt ihr denn etwas Geld?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Aber ich kann jetzt wieder Überstunden* machen.«
Ich weiß: er wird bis zwölf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karte beziehen. Hinterher wird er ein Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzähle ich ihm einige Geschichten, die mir gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln, die irgendwann mal ‘reingelegt wurden.
Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch für mich gebacken hat.
Dann fahren sie ab, und ich gehe zurück.
Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Puffer und esse davon. Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu geben. Dann fällt mir ein, dass meine Mutter sie selbst gebacken hat und dass sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, während sie am heißen Herd stand. Ich lege das Paket zurück in meinen Tornister und nehme nur zwei Stück davon mit zu den Russen.
1. Beschreiben Sie einen Tag im Heidelager.
2. Neben den Baracken befindet sich das Russenlager. Wie verhält man sich zu den Gefangenen?
3. Erzählen Sie über den Besuch des Vaters. Was braucht Pauls Mutter? Warum weiß sein Vater nicht, wieviel die Operation kostet?
4. Was bedeutet der Kartoffelpuffer für Paul?
Siebzehn-und-vier– ein Kartenspiel
Bernhardiner, der– ein großer, kräftiger Hund, mit dem man besonders die Leute sucht, die von einer Lawine verschüttet wurden revidieren– (noch einmal) prüfen
Friesland– das ganze von den Friesen bewohnte Gebiet zwischen Rhein- und Wesermündung
Ruhr, die– eine Infektion des Darmes, die zu starkem Durchfall führt
Juchten, das– meist mit Weidenrinden gegerbtes und mit Birkenöl eingefettetes, gutes Rindsoder Rossleder
Mettwurst, die– Wurst aus magerem, gewürztem Hackfleisch
Zuflucht, die– ein Ort oder eine Person, die jemandem Schutz und Hilfe geben, wenn er in Gefahr, Not ist
Choral, der– ein feierliches Lied, das besonders bei religiösen Anlässen gesungen wird
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