Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine Bewegungen, mit denen er sie anfasste, hob und wegstellte.
Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig – aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des Eindrucks, dass sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier gehaust hatte.
Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für einen Augenblick zerstörte, fasste sie das Grauen an, und sie warteten stumm und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.
Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann, vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte – wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, dass man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen – ; nur von Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von seinem „toten Bruder“ den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.
Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel – offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung, sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloss auf, zog ein Fach heraus, legte seinen „Brief“ hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.
Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, dass niemand die Stimme Bosenas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: „Milostpane! Gnä’ Herr! Dirfen wir herein?“
„Haben – haben Sie’s gesehen? Flugbeil, haben Sie’s auch gesehen? War das nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?“ brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das Schweigen; „ich hab’ doch gar nicht geahnt, dass da eine Schublad ist.“ Jammernd und die Hände ringend, brach er los: „Bogumil, um Gottes willen, ich hab’ dir doch nichts getan! Heiliger Vaclav, vielleicht hat er mich enterbt, weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!“
Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.
Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im Zimmer, die von Bosena als die „böhmische Liesel“ vorgestellt wurde.
Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte, welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.
Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die Spuren einstiger großer Schönheit auf.
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, dass ihr die Umgebung in keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der höflichen Frage zuvor:
„Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es sich handelt?“
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende, wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der Herren schloss sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher, scharfer Gegenfragen:
„Dieser Mann dort“ – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här’ ich, bei Ihnen? – Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – ?“ – sie brachte das Wort nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen, packte sie wieder das Grausen. – „Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – Ist er vielleicht krank?“ milderte sie den Ausdruck.
Die „böhmische Liesel“ zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren, überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, dass der Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
„Er ist von dem Gartentor heruntergefallen“, mischte sich der kaiserliche Leibarzt schnell ein. „Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach Ihnen geschickt. – Wer und was er ist“ – fuhr er krampfhaft fort, um zu verhindern, dass sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, „tut ja nichts zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch, was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab’ mir gleich gedacht, dass Sie wissen, was das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Bosena kann Ihnen dabei behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?“
„Jaja. Nur hinaus mit ihm!“ wimmerte Elsenwanger. „O Gott, nur fort, nur fort.“
„Ich weiß bloß, dass er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler ist“, sagte die „böhmische Liesel“ ruhig. „Er geht des Nachts in den Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er“ – sie schüttelte den Kopf – „ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, dass hier keine Gastwirtschaft ist?“
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und fasste ihn an der Hand. —
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein Gang sicher und das normale Selbstbewusstsein halb und halb zurückgekehrt – trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.
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