Meredith legte in seinem Schritt zu und die drei Agenten hasteten ihm nach, um nicht zurückzubleiben.
Riley fragte: „Und wer hat das FBI angerufen?“
Meredith antwortete: „Ich habe den Anruf von Jude Cullen bekommen, dem Deputy Chief der Eisenbahnpolizei des Raums Chicago. Er meinte, er brauche sofort Fallanalysten vor Ort. Ich habe ihm aufgetragen, den Körper zu lassen, wo er ist, bis ihn sich meine Agenten angeschaut haben.
Meredith schnaubte.
„Das ist ziemlich viel verlangt. Drei weitere Güterzüge und ein Passagierzug sollen heute noch die Strecke fahren. Die Verzögerungen richten jetzt schon richtiges Chaos an, deshalb müssen Sie sobald wie möglich zum Tatort um den Körper inspizieren zu können. Erst danach kann er bewegt werden und die Züge können wieder fahren. Naja und dann…“
Meredith schnaubte wieder.
„Dann müssen Sie den Killer aufhalten. Und ich bin mir sicher, dass wir uns alle darüber einig sein können: er wird wieder morden. Abgesehen davon wissen sie jetzt genau so viel über den Fall wie ich. Cullen wird Ihnen alle anderen Einzelheiten selbst erzählen müssen.“
Die Gruppe betrat das Rollfeld der Landebahn, wo ein kleiner Jet mit laufenden Motoren bereits auf sie wartete.
Gegen den Lärm anbrüllend, rief Meredith ihnen zu: „Sie werden am O’Hare Airport von ein paar Eisenbahnpolizisten empfangen. Die fahren Sie dann direkt zum Tatort.“
Meredith machte kehrt und begab sich auf den Weg zurück zum Gebäude. Riley und ihre Kollegen stiegen die Treppe hinauf und gingen an Bord. Die Hastigkeit ihrer Abreise hinterließ ein Gefühl des Schwindels bei Riley. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Meredith sie jemals so hinausgehetzt hatte.
Aber es überraschte nicht, wenn man bedachte, dass der Zugverkehr durch den Vorfall behindert war. Riley konnte sich nur ausmalen, welch enorme Schwierigkeiten dies gerade bereitete.
Sobald das Flugzeug in der Luft war holten die drei Agenten ihre Laptops heraus um zu versuchen die wenigen Informationen, die zu diesem Zeitpunkt womöglich bereits vorlagen, zu recherchieren.
Riley stellte schnell fest, dass die Neuigkeiten bezüglich des letzten Mordes sich bereits verbreitet hatten, obwohl der Name des Opfers noch nicht vorlag. Sie fand aber heraus, dass der Name des vorherigen Opfers Fern Bruder war. Es handelte sich um eine 25-jährige Frau, dessen enthaupteter Körper auf den Zuggleisen in der Nähe von Allardt, Indiana aufgefunden wurde.
Riley fand nicht sehr viel mehr über die Morde. Sollte die Eisenbahnpolizei bereits Verdächtige haben oder ein Motiv vermuten, so hatte diese Information die Öffentlichkeit noch nicht erreicht –– und das war gut so, wie Riley wusste.
Trotzdem war es frustrierend gerade nicht mehr herausfinden zu können.
Da sie sich gegenwärtig nicht mit dem Fall beschäftigen konnte, versank Riley in Gedanken darüber, was soweit heute geschehen war. Sie fühlte immer noch den Schmerz, den der Verlust von Liam hinterlassen hatte –– allerdings erkannte sie auch…
„Verlust“ ist nicht wirklich das treffende Wort.
Nein, sie und ihre Familie hatten ihr Bestes für den Jungen gegeben. Und nun ergab es sich noch besser für Liam, dass er in der Obhut von Menschen war, die ihn liebten und sich gut um ihn sorgen würden.
Gleichzeitig fragte Riley sich…
Wieso fühlt es sich dann wie ein Verlust an?
Riley war auch zwiegespalten was Aprils Pistole und ihr Schießtraining anging. Die Reife, die April gezeigt hatte, machte Riley auf jeden Fall stolz, genauso wie ihre zunehmende Treffsicherheit. Auch war Riley zutiefst berührt, dass April in ihre Fußstapfen folgen wollte.
Und doch… Riley konnte nicht anders, als sich vor Augen zu führen…
Ich bin auf dem Weg zu einem enthaupteten Körper.
Ihre gesamte Karriere war eine lange Aneinanderreihung von Grausamkeiten. War das wirklich das Leben, dass sie sich für April wünschte?
Es ist nicht meine Entscheidung, dachte Riley. Es ist ihre.
Riley fühlte sich auch komisch wegen des schwierigen Gesprächs, dass sie vorhin mit Jenn gehalten hatte. So vieles war unausgesprochen geblieben und Riley hatte keine Ahnung, was gerade möglicherweise zwischen Jenn und Tante Cora vorgehen könnte. Jetzt war aber natürlich auch nicht der richtige Zeitpunkt das alles anzusprechen –– nicht jetzt in Bills Gegenwart.
Riley konnte nicht anders, als sich zu fragen…
Hat Jenn Recht? Sollte sie vielleicht doch ihre Dienstmarke ablegen?
Machte Riley alles vielleicht schlimmer für die junge Agentin, indem sie sie ermutigte weiterhin beim FBI zu bleiben?
Und war Jenn gerade in der richtigen Verfassung um einen neuen Fall anzufangen?
Riley schaute zu Jenn hinüber, die in ihrem Sitz versunken angestrengt auf ihren Computer starrte.
Jenn schien gerade voll und ganz bei der Sache zu sein –– sehr viel mehr als Riley, jedenfalls.
Rileys Gedanken wurden von Bills Stimme unterbrochen.
„An die Bahngleise gefesselt. Das klingt fast wie…“
Riley sah, dass auch Bill auf seinen Bildschirm schaute.
Er hielt inne, aber Jenn führte seinen Satz zu Ende.
„Wie einer dieser alten Stummfilme, oder? Ja, das dachte ich mir auch.“
Bill schüttelte den Kopf.
„Ich will mich natürlich nicht darüber lustig machen, aber… ich muss andauernd an einen schnurrbärtigen Bösewicht im Zylinderhut denken, der ein junges Fräulein an die Gleise fesselt bis irgendein flotter Held eintrifft um sie zu retten. War das nicht das Standardszenario all dieser Stummfilme?“
Jenn zeigte auf ihren Bildschirm.
„Naja, eigentlich nicht wirklich. Ich habe das mal recherchiert. Es ist ein Motiv, ein Klischee. Und jeder meint es irgendwann mal so gesehen zu haben. Aber es ist nie tatsächlich so in irgendeinem Stummfilm verfilmt worden. Jedenfalls nicht als ernsthafte Geschichte.“
Jenn drehte ihren Bildschirm zu Bill und Riley, sodass sie ihn sehen konnten.
Sie führte aus: „Das erste fiktionale Beispiel eines Bösewichts, der jemanden an Bahngleise fesselt scheint lange vor dem Film erschaffen geworden zu sein. Es handelt sich um das 1867 erschienene Theaterstück „Unter dem Gaslicht“. Aber –– passt auf! –– der Bösewicht fesselte einen Mann an die Gleise und es war die Protagonistin, die ihn befreien musste. Dasselbe Motiv kommt in einer Kurzgeschichte und einigen anderen Theaterstücken dieser Zeit vor.“
Riley sah, dass Jenn ziemlich vereinnahmt war von dem, was sie herausgefunden hatte.
Jenn fuhr fort: „Was alte Filme angeht, es gab da grad mal zwei Stummkomödien, in denen genau das passierte –– eine kreischende, hilflose junge Dame wurde von einem heimtückischen Schurken an die Bahngleise gefesselt und wurde dann von einem schönen Helden wieder befreit. Aber die waren der Lacher halber, so wie Zeichentrickfilme am Samstagmorgen.“
Bills Augen weiteten sich vor Interesse.
„Parodien auf etwas, was nie wirklich existiert hatte“, sagte er.
„Genau“, sagte Jenn.
Bill schüttelte den Kopf.
Er sagte: “Aber Dampflokomotiven waren zu diesen Zeiten eine alltägliche Sache –– in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, meine ich. Gab es keine Stummfilme, die jemanden darstellten, der in Gefahr war von einem Zug überfahren zu werden?“
„Doch, klar“, sagte Jenn. „Manchmal fielen Figuren auf die Gleise oder wurden geschubst und durch den Fall K.O. geschlagen. Aber das ist nicht dasselbe Szenario, oder? Außerdem waren die Filmfiguren meistens Männer, wie in dem Theaterstück, und mussten von der weiblichen Heldin gerettet werden.“
Riley war nun ganz Ohr. Sie wusste genau, dass Jenn nicht ihre Zeit vergeudete, wenn sie solche Dinge recherchierte. Sie mussten alles wissen, was einen Killer womöglich antreiben könnte. Es könnte sich als nützlich erweisen die kulturellen Vorläufer der Szenarien, mit denen sie zu tun hatten, zu kennen und zu verstehen–– selbst, wenn diese womöglich fiktional waren.
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