Jetzt musste sie sich beeilen. Sie sprang nach links und suchte nach einer Tür, doch schon erschien ein weiterer Mann vor ihr. Sie wirbelte herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung, direkt in Chiqys Arme. Er hielt sie so fest, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte.
Weiter weg sah sie den Mann im Anzug. Noch immer war er unten ohne und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Sarah.
„Jetzt will ich sie zum halben Preis!“
Sarah sah, dass Chiqy etwas aus seiner Tasche zog – eine Spritze! Sie versuchte, sich loszureißen, aber es war vergeblich. Sie spürte einen Stich in ihrem Oberarm.
„Ich habe dich gewarnt“, flüsterte er. Es klang fast wie eine Entschuldigung.
Als sich sein Griff lockerte, hatte sie schon keine Kontrolle mehr über ihre Muskeln. Chiqy ließ sie los. Als sie auf dem Boden aufschlug, hatte sie bereits das Bewusstsein verloren.
Unruhig saß Keri im Wartezimmer des Sicherheitsbüros in der Fox Hills Mall. Sie hatte nur einen Gedanken: Das dauert viel zu lange!
Einer der Angestellten suchte nach Aufnahmen im Gastronomiebereich um 14 Uhr, als Lanie das Foto auf Instagram gepostet hatte. Dass es so lange dauerte, konnte nur daran liegen, dass entweder das System sehr alt, oder der Mitarbeiter inkompetent war.
Auf dem Stuhl neben ihr schmatzte Ray an einem Wrap herum, den er sich auf dem Weg durch das Shopping Center gekauft hatte. Keri hatte ihren Wrap kaum angefasst.
Obwohl die Mädchen erst seit etwas länger als vier Stunden unerreichbar waren, hatte Keri das starke Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Sie konnte es nur noch nicht beweisen.
„Willst du das Ding nicht einfach im Ganzen Verschlingen?“, fragte sie Ray genervt.
Er hörte sofort auf zu kauen und sah sie fragend an. „Was frisst dich denn?“, fragte er mit vollem Mund.
„Tut mir leid, ich sollte meinen Frust nicht an dir auslassen. Was dauert das denn so lange? Wenn diese Mädchen wirklich entführt wurde, vergeuden wir hier wertvolle Zeit.“
„Wir geben ihnen noch zwei Minuten. Wenn sie bis dahin nichts gefunden haben, treten wir ihnen auf die Füße. Fair?“
„Fair“, antwortete Keri und nahm einen kleinen Biss von ihrem Wrap.
„Ich weiß, dass du nicht besonders geduldig bist, aber da ist doch noch etwas anderes los mit dir. Das habe ich vorhin auf dem Revier schon bemerkt. Wir haben noch zwei Minuten, also raus mit der Sprache.“
Keri sah ihn an. Ein Stück Salat klemmte zwischen zwei Zähnen. Sie hätte gelacht, wenn die Situation nicht so ernst wäre.
Dieser Mann steht dir näher als irgendjemand sonst auf dieser Welt. Sag es ihm, er hat es verdient.
„Okay“, begann sie. „Gleich.“
Sie holte einen Überwachungsdetektor aus der Handtasche, den sie seit einer Weile mit sich führte und gab Ray ein Zeichen, ihr in den Gang zu folgen.
Das Gerät war ihr von einem Sicherheitsexperten empfohlen worden, dem sie bei einem Fall geholfen hatte. Er schien Recht zu behalten, das Gerät war handlich, zuverlässig und preiswert.
Seit dieser Anwalt Jackson Cave ihr gedroht hatte, dass er sie nicht mehr aus dem Augen lassen wollte, hatte sie mehrere Abhörgeräte entdeckt. Eine Wanze hatte sie in ihrer Schreibtischlampe auf dem Revier gefunden. Wie es dort hinkam, wusste sie nicht genau. Vielleicht hatte er ein Mitglied des Reinigungspersonals bestochen.
Außerdem hatte sie eine Kamera und eine Wanze in ihrer neuen Wohnung gefunden – im Wohnzimmer und im Schlafzimmer, sowie im Steuerrad ihres Dienstwagens und hinter der Sonnenblende in Rays Auto.
Edgerton hatte sich darum gekümmert, dass ihr Computer vor jeglichen Cyberangriffen geschützt war. Bisher sah es so aus, als wäre nichts versucht worden, aber sicherheitshalber benutzte sie den Computer nur noch für offizielle Angelegenheiten.
Ihr Handy war bisher clean geblieben, wahrscheinlich weil sie es immer bei sich trug. Es war das einzige Gerät, das sie für die Kommunikation mit dem Sammler benutzt hatte, deswegen wollte sie es nie unbeobachtet lassen.
Als sie nun mit Ray im Gang stand, überprüfte sie zuerst sich selbst, dann Ray und schließlich sein Handy nach Überwachungsgeräten.
Ray hatte sich in den vergangenen Wochen an diese Prozedur gewöhnt. Anfangs hatte er sich dagegen gesträubt, aber nachdem Keri auch in seinem Auto eine Wanze gefunden hatte, wehrte er sich nicht mehr dagegen. Im Gegenteil, er war ebenso aufgebracht darüber und wollte sicher sein, dass man ihn nicht abhörte. Am liebsten hätte er sie sofort herausgerissen, aber Keri hatte ihn überzeugt, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn Cave mitbekam, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren, würde er vielleicht den Sammler warnen.
Cave hatte bereits den Verdacht, dass Keri seine Daten gestohlen hatte, aber er hatte keine Beweise dafür. Und er konnte nicht wissen, ob Keri seine Sicherheitsbarrieren überwunden hatte und jetzt vielleicht ihn überwachte. Daher vermutete sie, dass er sich nur an den Sammler wenden würde, wenn es absolut nötig wäre.
Er dachte, dass sie in einer Art Pattsituation steckten und da er weit mehr Informationen hatte als sie, wollte sie ihn in dem Glauben lassen.
Sie musste Ray jedoch versprechen, dass sie die Wanzen sofort entfernen würde, wenn sich daraus ein Nachteil ergab. Sie hatten sich sogar ein geheimes Codewort überlegt, wenn es soweit kommen sollte. „Bondi Beach“, ein berühmter Strand im australischen Sydney, den Keri eines Tages besuchen wollte. Wenn sie eines Tages diese beiden Worte sagte, könnte er endlich jegliche Überwachungsgeräte herausreißen.
„Zufrieden?“, fragte er, als sie ihren Sicherheitscheck abgeschlossen hatte.
„Ja. Sorry. Also, ich habe heute früh eine E-Mail von unserem Freund bekommen“, sagte sie und vermied damit, etwas auszuplaudern, das niemand hören sollte. „Er hat angedeutet, dass er sich bald wieder treffen will. Vielleicht bin ich deswegen etwas reizbar. Immer wenn sich etwas auf meinem Handy regt, denke ich, dass er es ist.“
„Hat er angedeutet, wann es soweit ist?“, fragte Ray.
„Nein. Er hat nur gesagt, dass er sich bald meldet; sonst nichts.“
„Kein Wunder, dass du so geladen bist. Ich dachte, dass du wegen des Mädchens überreagierst.“
Keri spürte, wie in ihr die Hitze aufkochte. Sie starrte ihren Partner wütend an. Auch Ray merkte, dass er mit seinem Kommentar zu weit gegangen war. Gerade als er etwas sagen wollte, winkte der Sicherheitsangestellte sie in den Computerraum.
„Ich habe etwas gefunden“, rief er.
„Dein Glück“, knurrte Keri und stürmte voran. Ray folgte mit etwas Abstand.
Als sie den Computerraum betraten, zeigte das Video 2 Uhr 5. Sarah und Lanie saßen gut sichtbar an einem kleinen Tisch. Lanie machte ein Foto mit ihrem Handy. Höchstwahrscheinlich das Bild, das Edgerton bei Instagram gefunden hatte. Keine zwei Minuten später näherte sich ihnen ein großer, dunkelhaariger, tätowierter Typ. Er küsste Lanie und nach ein paar Minuten standen sie zusammen auf und gingen.
Der Mann stoppte das Video und sah zu Ray und Keri. Auf seinem Namensschild stand ‚Keith‘. Er war um die dreiundzwanzig, hatte fettige, pickelige Haut und eine schlechte Körperhaltung, die Keri irgendwie an Quasimodo erinnerte.
Schnell vertrieb sie diesen Gedanken.
„Ich habe ein paar Screenshots, auf denen man den Typen gut erkennen kann. Ich habe sie abgespeichert und kann sie Ihnen jederzeit schicken.“
Ray sah Keri mit hochgezogenen Augenbrauen an. Vielleicht war dieser Kerl doch nicht so inkompetent, wie sie dachten. Keri war jedoch immer noch wütend über seinen Kommentar und ignorierte seinen Blick.
„Das wäre wunderbar“, sagte Ray zu dem jungen Mann. „Konnten Sie auch herausfinden, wo sie dann hingegangen sind?“
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