Sie sah, wie Lin und Alteus Blicke austauschten. Dann nickten sie.
„Zuerst haben wir die Rebellion der Zauberer gewähren lassen“, sagte Alteus. „Wir glaubten, dass sie zu nichts führen würde. Dann ist sie größer geworden, und wir haben zu kämpfen begonnen, doch in diesem Kampf haben wir genauso viel Zerstörung angerichtet wie sie. Wir hatten die Macht, ganze Landschaften zu verwüsten, und wir haben sie genutzt. Oh ja, und wie wir sie genutzt haben.“
„Du hast gesehen, was dieser Insel angetan worden ist“, sagte Lin. „Wenn ich dich heile, falls ich dich heile, dann wirst du diese Art von Kraft besitzen. Was wirst du mit ihr anstellen, Ceres?“
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihr eine eindeutige Antwort hätte geben können. Das Reich zu Fall zu bringen. Sie hätte den Adel zerstört. Jetzt wollte sie nur noch, dass die Menschen ein glückliches Leben in Sicherheit leben konnten; das schien doch nicht zu viel verlangt.
„Ich will einfach nur die Menschen retten, die ich liebe“, sagte sie. „Ich will niemanden zerstören. Doch vielleicht... muss ich das. Ich hasse es, ich will einfach nur Frieden.“
Ceres überraschte diese Antwort selbst. Sie wollte nicht noch mehr Gewalt. Sie musste es einfach tun, um zu verhindern, dass unschuldige Menschen hingerichtet würden. Das brachte ihr ein weiteres Kopfnicken ein.
„Eine gute Antwort“, sagte Lin „Komm her.“
Die ehemalige Zauberin trat an die gläsernen Phiolen und alchemistischen Geräte heran. Auch sie schienen nur Illusionen zu sein. Sie hantierte mit ihnen herum, mischte und verschob eins um das andere. Alteus ging ihr zur Hand, und die beiden schienen in einer Art stillem Einverständnis zusammenzuarbeiten, dass man nur beherrschte, wenn man viele Jahre zusammen verbracht hatte. Sie füllten Lösungen in neue Behältnisse, fügten Zutaten hinzu und konsultierten verschiedene Schriften.
Ceres beobachtete sie, und sie musste zugeben, dass sie nicht einmal die Hälfte von dem, was sie da taten, verstand. Als die schließlich mit einer Glasphiole vor ihr standen, dann schien ihr das beinahe unbefriedigend.
„Trink das“, sagte Lin. Sie streckte sie Ceres entgegen. Sie schien keine Substanz zu haben und doch umfasste Ceres’ Hand solides Glas, als sie sie entgegennahm. Sie hielt sie in die Höhe und sah, dass das Glitzern der goldenen Flüssigkeit dem Farbton des Doms, der sie umgab, entsprach.
Ceres trank und es kam ihr vor, als würde sie Sternenlicht zu sich nehmen.
Es schien sie zu durchfluten. Dort, wo es sich in ihr auszubreiten begann, entspannten sich ihre Muskeln, starben die Schmerzen, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie da waren. Sie spürte auch, wie etwas in ihr zu wachsen begann. Es breitete sich wie ein Wurzelsystem in ihr aus, während sich die Kanäle, durch die ihre Kraft einst geflossen war, regenerierten.
Ceres hatte sich seit Beginn der Invasion nicht mehr so gut gefühlt. Es fühlte sich an, als wäre eine tiefe Friedseligkeit in ihr eingekehrt.
„War es das?“ fragte Ceres.
Alteus und Lin nahmen sich bei den Händen.
„Noch nicht ganz“, sagte Alteus.
Der Dom um Ceres schien zu implodieren und jeder Umriss schien sich dabei in reines Licht zu verwandeln. Das Licht schien sich an der Stelle zu konzentrieren, wo der Uralte und die Zauberin standen, bis Ceres auch sie nicht mehr ausmachen konnte.
„Wir sind gespannt, wie es weitergehen wird“, sagte Lin. „Auf Wiedersehen, Ceres.“
Das Licht schoss auf sie zu, füllte Ceres aus, sodass die Kanäle in ihrem Körper wie frisch durchflutete Aquaedukte überzufließen schienen. Es floss immer weiter in sie hinein und füllte sie immer mehr aus, sodass sich mehr Kraft in Ceres zu stauen begann als jemals zuvor. Zum ersten Mal verstand sie, wie tief die Kräfte der Uralten wirklich reichten.
Sie stand da, die Kraft pulsierte in ihr, und sie wusste, dass die Zeit gekommen war.
Die Zeit des Krieges war gekommen.
Jeva spürte, wie ihre Anspannung mit jedem Schritt, der sie der Versammlungshalle näher brachte, wuchs. Die Menschen am Versammlungsort starrten sie auf eine Weise an, die sie sonst nur von fremden Menschen kannte, die ihresgleichen anstarrten: als wäre sie eine seltsame, fremde vielleicht sogar gefährliche Person. Das war kein Gefühl, das Jeva mochte.
Lag das nur daran, dass sie hier nur selten die Male der Priesterschaft zu Gesicht bekamen oder war es etwas anderes? Dann schallten ihr die ersten Beschimpfungen und Anschuldigungen der Menge entgegen, und Jeva begann zu verstehen.
„Verräterin!“
„Du hast deinen Stamm auf die Schlachtbank geführt!“
Ein junger Mann trat mit einem Hochmut aus der Menge heraus, den man nur bei jungen Männern finden konnte. Er stolzierte umher als gehörte ihm der Pfad, der zu dem Haus der Toten führte. Als Jeva ihm auszuweichen versuchte, baute er sich vor ihr auf und blockierte den Weg.
Jeva hätte ihm dafür eine verpassen können, aber sie hatte jetzt besseres zu tun.
„Geh mir aus dem Weg“, sagte sie. „Ich bin nicht gekommen, um meine Kräfte zu messen.“
„Sind dir die Gewohnheiten unseres Volkes denn vollkommen fremd geworden?“, fragte er. „Du hast deinen Stamm in den Tod nach Delos gelockt. Wie viele sind zurückgekehrt?“
Jeva konnte die Wut in seinen Worten hören. Es war die Art von Wut, die auch ihr Volk empfand, wenn sie jemanden verloren, der ihnen nahestand. Ihm zu antworten, dass sie sich auf den Weg zu den Ahnen gemacht hatte und er darüber glücklich sein sollte, würde nichts Gutes verheißen. Jeva war sich auf jeden Fall nicht einmal mehr sicher, ob sie das noch glauben konnte. Sie hatte das sinnlose Sterben des Kriegs gesehen.
„Aber du bist zurückgekommen“, sagte der junge Mann. „Du hast einen deiner Stämme zerstört, und dann bist du auch noch zurückgekehrt, du Feigling!“
An jedem anderen Tag hätte Jeva ihn dafür getötet, doch in Wahrheit spielte das Quäken solch eines Idioten keine Rolle, nicht im Vergleich zu all dem, was gerade an anderer Stelle geschah. Sie versuchte erneut an ihm vorbeizugehen.
Jeva hielt inne, als er ein Messer zog.
„Das willst du nicht versuchen, Junge“, sagte sie.
„Sag mir nicht, was ich will oder nicht!“ schrie er und griff sie an.
Jeva wich dem Hieb instinktiv aus und brachte ihre Klingenkette zum Einsatz. Eine der Ketten wand sich um seinen Hals und zurrte sich fest als Jeva sich mit geübter Schnelligkeit fortzubewegen begann. Blut spritzte als der junge Mann nach seinen Wunden tastend auf die Knie fiel.
„Verdammt“, sagte Jeva sanft. „Warum musst du mir das antun, du Trottel?“
Natürlich blieb keine Zeit für eine Antwort. Darauf gab es nie irgendeine Antwort. Jeva flüsterte die Worte eines Gebets für die Toten über den jungen Mann gebeugt, dann richtete sie sich auf und hob ihn hoch. Andere Dorfbewohner folgten ihr, als sie ihren Weg fortsetzte. Jeva konnte die Anspannung fühlen, die an die Stelle der anfänglichen Ausgelassenheit getreten war. Sie folgten ihr wie eine Ehrengarde oder das Geleit einer Gefangenen auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung.
Als sie das Haus der Toten erreichte, erwarteten sie dort bereits die Ältesten. Jeva tapste barfüßig hinein, kniete vor dem ewigen Feuer nieder und warf die Leiche ihres Angreifers hinein. Sie stand da und sah zu, wie sie Feuer fing, während sie einen Blick auf diejenigen Leute warf, die sie zu überzeugen gekommen war.
„Du bist mit Blut an deinen Händen zu uns gekommen“, sagte einer der Sprecher der Toten. Er trat auf sie zu und wedelte dabei mit seinen Seilen umher. „Die Toten haben uns gesagt, dass jemand kommen würde, aber nicht, dass es auf diese Weise geschehen würde.“
Jeva blickte ihn an und fragte sich, ob er die Wahrheit sprach. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie das nicht in Frage gestellt hätte.
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