Jeva fiel neben den anderen auf die Knie. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte den Tod erwartet und hatte das Leben bekommen. Jetzt musste es nur noch für etwas eingesetzt werden.
„Wir kommen, Thanos“, versprach sie.
Irrien ignorierte seine schmerzenden Wunden auf dem Ritt gen Süden. Die Wegstrecke hatte sich durch den Durchmarsch der Armee bereits in Schlamm verwandelt. Er zwang sich in seinem Sattel zu einem aufrechten Sitz, ohne sich die Qualen, die ihm zusetzten, anmerken zu lassen. Er verlor weder an Tempo noch hielt er an, ungeachtet der vielen Schnitte, Bandagen und geflickten Wunden. Das, was ihn am Ende dieser Reise erwartete, war zu wichtig, als das es hätte warten können.
Seine Männer reisten mit ihm und schienen auf ihrem Weg zurück nach Delos noch schneller unterwegs zu sein als bei ihrem Angriff auf den Norden. Einige von ihnen hatten ihr Tempo gedrosselt, um ein Auge auf die Sklavenzüge oder Wagen mit geplünderten Gütern zu haben. Doch die meisten ritten mit ihrem Herrn, bereit, in die bevorstehende Schlacht zu ziehen.
„Du irrst dich besser nicht“, raunte Irrien N’cho zu.
Der Mörder ritt mit der unerschütterlichen Ruhe, die er wie immer ausstrahlte, neben ihm. Ihm schienen die vielen geschulten Krieger Irriens rein gar nichts auszumachen.
„Wenn wir Delos erreichen, werdet Ihr es sehen, Erster Stein.“
Es dauerte nicht lange, und sie hatten Delos erreicht. Irriens Pferd keuchte schwer, und seine Flanken waren schweißnass. Er folgte N’cho von der Straße zu einem Ort voll von Ruinen und Grabsteinen. Als er schließlich stehen blieb, blickte Irrien ihm wenig beeindruckt entgegen.
„Das ist es?“ fragte er.
„Das ist es“, versicherte ihm N’cho. „Ein Ort, über den die Welt so wenig Macht hat, dass... andere Dinge herbeigerufen werden können. Dinge, die einen Uralten töten können.“
Irrien stieg ab. Er hätte es mit Anmut und Leichtigkeit tun sollen, doch der Schmerz seiner Wunden verhinderte einen eleganten Abstieg. Es war eine Erinnerung an das, was der Mörder und seine Kumpanen ihm angetan hatten, eine Erinnerung, für die N’cho bezahlen würde, wenn er nicht liefern konnte, was er versprochen hatte.
„Das sieht nach einem gewöhnlichen Friedhof aus“, blaffte Irrien ihn an.
„Es ist ein Ort des Todes seit der Zeit der Uralten“, antwortete N’cho. „Dieser Ort hat so viel Tod gesehen, dass das Tor ins Jenseits sich nicht wieder vollkommen geschlossen hat. Man benötigt nur die richtigen Worte, die richtigen Symbole. Und natürlich, die richtigen Opfergaben.“
Diesen Teil hätte Irrien angesichts des für einen Todespriester typischen Gewands, das der Mann trug, ahnen können. Doch wenn er ihm die Mittel an die Hand gab, das Kind der Uralten zu töten, war ihm jedes Mittel recht.
„Man wird Sklaven herbringen“, versprach er. „Doch wenn du hier versagst, dann wirst du ihnen in den Tod folgen.“
Das Unheimliche daran war, dass der Mörder auf diese Drohung keinerlei Reaktion zeigte. Er behielt seine Ruhe bei, während er zu einer Stelle eilte, die wie die Stätte eines Massengrabs aussah. Er zog Pulver und Wässerchen aus seinem Gewand und begann Zeichen auf den Boden zu malen.
Irrien wartete und sah ihm zu. Er saß im Schatten eines Grabs und versuchte zu verbergen, wie sehr sein Körper nach dem langen Ritt schmerzte. Er wäre zu gerne nach Delos geritten, um zu baden und seine Wunden zu versorgen und sich vielleicht ein wenig auszuruhen. Doch dann hätten seine Männer angefangen, Fragen über seinen Verbleib zu stellen. Das hätte ihn schwach aussehen lassen.
Er sandte also ein paar seiner Männer, damit sie Opfergaben und eine Reihe anderer Dinge, die N’cho benötigte, holten. Es dauerte mehr als eine Stunde bis sie aus der Stadt zurückgekehrt waren, und trotzdem wirkte die Zusammenstellung der Dinge, die er ihnen zu bringen aufgetragen hatte, überaus seltsam. Ein Dutzend Todespriester kam in Begleitung von Sklaven und brachten die gewünschten Salben, Kerzen und Kohlenbecken.
Irrien sah, wie N’cho mit einer Selbstzufriedenheit zu grinsen begann, die Irrien verriet, dass dies kein Trick sein konnte.
„Sie wollen es sehen“, sagte er. „Sie wollen sehen, ob es möglich ist. Sie glauben daran und können es doch nicht glauben.“
„Ich werde dir glauben, wenn ich erste Ergebnisse sehe“, sagte Irrien.
Er ging zurück zu der Stelle, die er mit den Zeichen seiner Zunft markiert hatte. Er stellte einige Kerzen auf und zündete sie an. Er winkte, dass ihm ein paar Sklaven gebracht würden und einer nach dem anderen wurde an den am Rand des von ihm gezogenen Kreises angebrachten Stangen festgebunden. Dann salbte er sie mit Ölen, was dazu führte, dass sie zu betteln und sich zu winden begannen.
Das war jedoch nichts im Vergleich zu den Schreien, als der Mörder sie in Brand setzte. Irrien konnte hören, wie einige seiner Männer angesichts dieser rohen Brutalität keuchten oder sich über die Verschwendung beschwerten. Irrien stand einfach nur da. Wenn das nicht funktionierte, dann würde er später noch genug Zeit haben, N’cho zu töten.
Doch es funktionierte und auf eine Art und Weise, die Irrien nicht vorhergesehen hatte.
Er sah, wie N’cho singend sich vom Kreis entfernte. Während er sang, schien der Boden innerhalb des Kreises nachzugeben so wie eines der für den überschüssigen Staub bestimmten Senklöcher, an die Irrien gewöhnt war. Die schreienden und brennenden Opfergaben stürzten hinab während N’cho noch immer sang.
Irrien hörte, wie sich die Gräber krachend und ächzend zu öffnen begannen. Die Erde eines Grabs in der Nähe von Irrien riss auf, und Irrien sah, wie Knochen in einem Strudel zu tanzen begannen und von dem Loch im Boden verschlungen wurden, ohne dass eine Spur von ihnen zurückblieb.
Weitere folgten ihnen nach und ergossen sich mit der Geschwindigkeit dröhnender Wurfspieße in die Kluft, als würden sie von ihr angezogen. Irrien sah, wie ein Mann von einem Oberschenkelknochen aufgespießt und mit in die Grube hineingerissen wurde. Er kreischte und dann wurde es still.
Für mehrere Sekunden war alles ruhig. N’cho gab den Todespriestern ein Zeichen vorzutreten. Sie kamen und traten neben ihn, denn sie wollten sehen, was er dort tat. Irrien dachte, was für Idioten sie sein mussten, ihren Machthunger vor alles andere zu stellen, selbst vor ihr eigenes Überleben.
Irrien ahnte, was geschehen würde noch bevor die große Klaue aus dem Loch, das sich geöffnet hatte, auftauchte und nach einem von ihnen griff. Seine Krallen durchbohrten den Priester, dann schliff er ihn hinab in das Loch, während sein Opfer um Gnade flehte.
N’cho blieb, wo er war, während die Kreatur nach dem sterbenden Mann grabschte. Er wickelte eine leichte Silberkette um den Arm der Kreatur, so als würde er ein Pferd festbinden. Er überreichte die Kette einer Gruppe aus Soldaten, die sie nur zögerlich festhielten, als würden sie erwarten, die nächsten Opfer zu sein.
„Zieht“, befahl er. „Zieht, als ginge es um euer Leben.“
Die Männer blickten zu Irrien, und Irrien nickte. Wenn ihn das ein paar Leben kostete, dann würden sie es wert sein. Er sah zu, wie die Männer zu ziehen begannen. Sie legten sich ins Zeug, als würden sie ein schweres Segel einholen. Sie schafften es nicht, das Biest aus seiner Höhle zu ziehen, doch sie schienen es so zu überzeugen, sich in Bewegung zu setzen.
Die Kreatur kletterte mit seinen Krallenfüßen aus dem Loch. Papierdünne, lederartige Haut spannte über seinen Knochen, die die Körpergröße eines jeden Mannes überstiegen. Einige der Knochen zeichneten sich wie speerspitzenlange Dornen unter der Haut ab. Aufgerichtet war es eine Schiffslänge groß und sah mächtig und unaufhaltbar aus. Sein Kopf glich dem eines Krokodils und war beschuppt, ein einziges großes Auge prangte in der Mitte seines Schädels in gallenartigem Gelb.
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