„Er hat mich angegriffen“, sagte Jeva. „Er war jedoch nicht so schnell, wie er geglaubt hatte.“
Die anderen nickten. Solche Dinge konnten in den rauen Gegenden dieser Welt geschehen. Jeva ließ sich nichts von dem Schuldgefühl, das sie plagte, in ihrem Gesicht anmerken.
„Du bist gekommen, um uns etwas zu fragen“, sagte der Sprecher.
Jeva nickte. „Das bin ich.“
„Dann stell uns deine Frage.“
Jeva sammelte ihre Gedanken. „Ich bin gekommen, um euch für die Insel Haylon um Hilfe zu bitten. Eine große Flotte wird sie auf Geheiß des Ersten Steins angreifen. Ich denke, dass unser Volk ihnen entscheidend zur Seite stehen kann.“
Ein Stimmengewirr brach aus. Fragen und Forderungen, Anschuldigungen und Meinungen schienen in einem großen Pulk zu verschwimmen.
„Sie will, dass wir für sie sterben.“
„Das haben wir schon einmal gehört!“
„Warum sollten wir für Menschen kämpfen, die wir gar nicht kennen?“
Jeva ertrug all das geduldig. Wenn sie es vermasselte, dann würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Raum nicht lebendig wieder verlassen. Sie hätte einen gewissen inneren Frieden dabei empfinden sollen, aber sie musste eben auch daran denken, wie Thanos sie unter Einsatz seines Lebens gerettet hatte und an all die Menschen, die auf Haylon festsaßen. Sie durfte sie nicht enttäuschen.
„Wir sollten sie den Toten übergeben nach allem, was sie getan hat!“ rief einer.
Der Sprecher der Toten stellte sich neben Jeva und hob die Hände, um so um Ruhe zu bitten.
„Wir wissen, worum uns unsere Schwester hier bittet“, sagte der Sprecher. „Es ist jetzt nicht an der Zeit, darüber zu sprechen. Wir sind nur die Lebenden. Jetzt sollten wir hören, was die Toten dazu zu sagen haben.“
Er griff sich an seinen Gürtel und zog ein Täschchen hervor, das eine Mischung aus heiligen Pulvern und der Asche der Ahnen enthielt. Er warf es in das Feuer und die Flammen loderten auf.
„Atme Schwester“, sagte der Sprecher. „Atme und sieh.“
Jeva atmete den Rauch ein. Sie sog ihn tief in ihre Lungen ein. Die Flammen tanzten in dem Graben unter ihr, und Jeva erblickte zum ersten Mal in vielen Jahren die Toten.
Zuerst erschien ihr der Geist des Mannes, den sie getötet hatte. Er erhob sich aus seiner brennenden Leiche und lief durch die Flammen auf sie zu.
„Du hast mich getötet“, sagte er leicht erschrocken. „Du hast mich getötet!“
Er schlug sie, und obwohl die Toten nicht in der Lage sein sollten, den Lebendigen etwas anzuhaben, spürte Jeva die volle Wucht seines Angriffs. Er schlug zu und trat erwartungsvoll dreinblickend zurück.
Dann kamen die anderen Toten zu Jeva, und sie waren kaum freundlicher zu ihr als der junge Mann, den sie getötet hatte. Sie waren alle dort: diejenigen, die sie selbst getötet hatte und jene, die sie auf Haylon ihrem Tod überlassen hatte. Einer nach dem anderen trat an sie heran, und einer nach dem anderen schlug nach Jeva, sodass sie zu taumeln begann und sich schließlich flach auf dem Boden liegend wiederfand. Und sie sorgten dafür, dass sie auch dort blieb.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie von ihr abließen, erst jetzt konnte Jeva wieder den Blick heben. Sie blickte auf Haylon, die Insel war von Schiffen umzingelt und die Schlacht tobte.
Sie sah, wie die Schiffe des Knochenvolks die der Angreifer rammten, Löcher in sie schlugen, sodass ihre Krieger sich an das Ufer retten mussten. Sie sah sie kämpfen und töten und sterben. Jeva sah, wie sie, so wie vor kurzem in Delos, wie die Fliegen starben.
„Wenn du sie nach Haylon führst, dann werden sie sterben“, sagte eine Stimme, die so klang als würde sie sich aus den Stimmen Tausender Ahnen zusammensetzen. „Sie werden sterben, so wie wir gestorben sind.“
„Werden sie gewinnen?“ fragte Jeva.
Es gab eine kurze Pause bevor die Stimmen antworteten. „Es ist möglich, dass die Insel gerettet werden kann.“
Es wäre also keine leere Geste. Es würde nicht so werden wie in Delos.
„Es wäre das Ende unseres Volkes“, sagte die Stimme. „Einige werden überleben, aber unsere Stämme werden es nicht. Unsere Traditionen werden es nicht. So viele werden sich uns anschließen und dich im Tode erwarten.“
Das schürte Jevas Angst. Sie hatte die Wut, die Schläge derjenigen gespürt, die gestorben waren. War es das wert? Konnte sie es ihrem ganzen Volk antun?
„Und du würdest sterben“, fuhr die Stimme fort. „Künde das unserem Volk, und du wirst mit deinem Leben bezahlen.“
Langsam kam sie wieder zu Bewusstsein. Sie lag auf dem Boden vor dem Feuer. Jeva fasste sich mit einer Hand ins Gesicht und bemerkte Blut an ihren Fingern, auch wenn sie nicht wusste, ob es die Anstrengung ihrer Vision war oder das Resultat der Gewalt der Toten gegen sie. Sie zwang sich aufzustehen und über die versammelte Menge zu blicken.
„Erzähl uns, was du gesehen hast, Schwester“, sagte der Sprecher der Toten.
Jeva blickte ihn an und versuchte zu erahnen, wie viel, falls überhaupt, er gesehen haben musste. Konnte sie in diesem Moment lügen? Konnte sie der versammelten Menge sagen, dass die Toten ihren Plan begrüßten?
Jeva wusste, dass sie die Lügen nicht zu weit treiben durfte, auch nicht für Thanos.
„Ich habe Tod gesehen“, „euren Tod, meinen Tod. Den Tod unseres gesamten Volkes, wenn wir in die Schlacht ziehen.“
Ein Murmeln griff um sich. Ihr Volk hatte keine Angst vor dem Tod, aber die Zerstörung all ihrer Traditionen war etwas anderes.
„Ihr habt mich gebeten, im Namen der Toten zu sprechen“, sagte Jeva, „und sie haben gesagt, dass durch die Leben unseres Stamms auf Haylon ein Sieg errungen werden kann.“ Sie atmete tief durch und überlegte, was Thanos jetzt getan hätte. „Ich will nicht im Namen der Toten sprechen. Ich will im Namen der Lebenden sprechen.“
Das Gemurmel veränderte sich und wurde noch verworrener. Auch nahmen die Stimmen in einigen Ecken einen wütenden Ton an.
„Ich weiß, was ihr denkt“, sagte Jeva. „Ihr denkt, dass ich ein Sakrileg begehe. Aber dort draußen wartet eine ganze Insel voller Menschen auf unsere Hilfe. Ich habe die Toten gesehen, und sie haben mich für ihren Tod verflucht. Wisst ihr, was mir das sagt? Dass das Leben wichtig ist! Dass die Leben all jener, die ohne unsere Hilfe sterben werden, wichtig sind. Wenn wir ihnen nicht helfen, dann lassen wir das Böse gewähren. Wir lassen zu, dass friedfertige Menschen abgeschlachtet werden. Ich werde das nicht zulassen, nicht, weil die Toten es sagen, sondern die Lebenden!“
Das verursachte einen Aufruhr in der Halle. Der Sprecher der Toten blickte erst auf die Menge und dann zu Jeva. Er drängte sie zur Tür.
„Du solltest jetzt gehen“, sagte er. „Geh, bevor sie dich wegen Blasphemie töten.“
Doch Jeva blieb. Die Toten hatten ihr bereits gesagt, dass sie für diesen Versuch sterben würde. Wenn das der Preis für ihre Hilfe war, dann würde sie ihn bezahlen. Sie stand wie eine Insel der Ruhe inmitten des Tumults. Als ein Mann auf sie zugerannt kam, verpasste sie ihm einen Tritt. Sie blieb, wo sie war, denn mehr konnte sie in diesem Augenblick nicht tun. Sie wartete auf den Moment, in dem einer von ihnen sie schließlich töten würde.
Jeva musste jedoch verwirrt erkennen, dass dies nicht geschah. Der Lärm im Raum ließ nach, und die Menschen blieben vor ihr stehen und blickten sie an. Einer nach dem anderen fiel auf die Knie. Dann trat der Sprecher der Toten vor.
„Es sieht so aus, als würden wir mit dir nach Haylon ziehen, Schwester.“
Jeva blinzelte. „Ich... verstehe nicht.“
Sie hätte längst tot sein sollen. Die Toten hatten ihr gesagt, dass sie ihr Leben würde opfern müssen.
„Hast du unsere Traditionen denn so völlig vergessen?“ fragte der Priester. „Du hast uns einen Tod angeboten, der es wert sein wird. Wieso sollten wir das ablehnen?“
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