N’cho hielt bereits weitere Ketten bereit. Er rannte um das Biest herum und drückte sie weiteren Männern in die Hände, sodass schnell eine ganze Kompanie aus Kriegern das Biest mit vollem Körpereinsatz zu zähmen versuchte. Auch so angekettet wirkte die Kreatur noch immer furchtbar gefährlich. Sie schien den Tod geradezu auszudünsten, sodass das Gras um sie sich durch seine bloße Gegenwart braun färbte.
Irrien erhob sich. Er zog sein Schwert nicht, aber nur, weil das sinnlos gewesen wäre. Wie konnte man etwas töten, dass im herkömmlichen Sinne nicht einmal wirklich am Leben war? Vielmehr noch, warum würde er etwas töten wollen, wenn es doch genau das war, was er brauchte, um mit den Kriegern auf Haylon fertig zu werden und mit dem Mädchen, das angeblich noch gefährlicher als alles andere war?
„Wie versprochen, Erster Stein“, sagte N’cho mit der Geste eines Sklavenhalters, der einen besonders teuren Preis verlangte. „Eine Kreatur gefährlicher als jede andere.“
„Gefährlich genug einen Uralten zu töten?“ fragte Irrien.
Er sah, wie der Mörder wie ein auf seine Kunst stolzer Schmied nickte.
„Das ist eine Kreatur blanken Todes, Erster Stein“, sagte er. „Sie kann alles töten, was lebt. Ich gehe davon aus, dass sie Eure Erwartungen vollends erfüllt.“
Irrien beobachtete, wie die Männer sich abmühten, sie unter Kontrolle zu halten und versuchte, ihre Stärke zu ermessen. Er konnte sich nicht vorstellen, gegen dieses Biest zu kämpfen. Es lag auch fern seiner Vorstellungskraft, wie irgendjemand eine seiner Attacken überleben sollte. Sein Auge kreuzte für einen kurzen Moment seinen Blick, und alles, was Irrien darin fand, war voll von Hass: ein tiefer, beständiger Hass auf alles, was lebte.
„Wenn du es danach wieder wegsperren kannst“, sagte Irrien. „Ich habe keine Lust, dass es mich irgendwann zu jagen versucht.“
N’cho nickte. „Es ist kein Wesen, das auf dieser Welt existieren sollte, Erster Stein“, sagte er. „Die Kraft, die es zusammenhält, wird irgendwann erloschen sein.“
„Bringt es zu den Schiffen“, befahl Irrien.
N’cho nickte, gab den Männern ein Zeichen und ordnete an, wie stark sie wo zu ziehen hatten. Irrien sah, wie einer der Männer einen falschen Schritt machte und das Biest ihn auspeitschte und entzwei riss.
Es gab nicht viel, wovor Irrien sich fürchtete, aber dieses Ding zählte dazu. Doch das war etwas Gutes. Es bedeutete, dass es mächtig war. Mächtig genug, seine Feinde zu besiegen.
Mächtig genug, das Ganze ein für alle Mal zu einem Ende zu bringen.
Stephania stand ungeduldig im Empfangszimmer von Ulrens weiträumigem Haus. Ihr Gesicht hielt sie so ausdruckslos wie das einer der Statuen hier, ungeachtet der Angst, die sie empfand. Sie empfand Angst, auch wenn sie diesen Moment sorgsam geplant hatte und trotz allem, was sie getan hatte, um es bis hierher zu schaffen.
Sie wusste aus ihrer Erfahrung mit Irrien, wie schrecklich schief so etwas gehen konnte. Ein falscher Zug und sie würde tot sein oder schlimmer noch als Objekt eines reichen Mannes verkauft werden. Hoffentlich würde der Zweite Stein leichter zu bezirzen sein als der Erste.
Die Ganoven, die sie hergebracht hatten, waren noch immer da und trugen nicht gerade dazu bei, dass Stephania ihre Nerven besser in den Griff bekam. Sie sprachen kein Wort mit ihr und brachten ihr auch nicht die Ehrerbietung entgegen, die ihre Position eigentlich mit sich brachte. Die zwei Männer standen eher wie Gefängniswärter neben der Tür während die Frau sich auf den Weg zu Ulren gemacht hatte, um ihn von Stephanias Besuch zu unterrichten.
Stephania nutzte die Zeit, sich zu überlegen, wie sie sich ihm am besten präsentieren sollte. Sie wählte eine Couch in der Mitte des Raums und lehnte sich elegant vielleicht sogar ein wenig verführerisch darauf zurück. Sie wollte, dass Ulren vom ersten Augenblick an klar war, weshalb sie gekommen war.
Als der Zweite Stein mit der Ganovin in das Empfangszimmer trat, war es alles, was Stephania tun konnte, um nicht aufzustehen und aus dem Zimmer zu fliehen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht einzubüßen, war sogar noch schwerer, doch Stephania besaß sehr viel Übung, wenn es darum ging, das zu verstecken, was sie wirklich fühlte.
Die Statuen von Ulren mochten einen halbwegs attraktiven Mann in seiner Jugend zeigen, doch jetzt war die Erscheinung des Zweiten Steins Lichtjahre davon entfernt. Er war alt. Schlimmer noch, das Alter hatte es nicht gut mit ihm gemeint in Bezug auf seine Falten und Leberflecken, das ausgedünnte Haar und die Narben, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hatte. Das war die Sorte Mann, über die adlige Mädchen Witze machten und die die Ärmsten unter ihnen gegen Geld heiraten mussten. Niemand, den Stephania als potentiellen Ehemann in Betracht gezogen hätte.
„Erster Stein Ulren“, sagte Stephania lächelnd und stand auf. „Es freut mich sehr, Euch endlich kennenzulernen.“
Sie log, denn hier ging es um etwas, das weitaus wichtiger war als jedes Geld der Welt. Dieser Mann konnte ihr ihr Reich zurückgeben. Er konnte ihr das geben, was man ihr genommen hatte und noch viel mehr.
„Meine Dienerin hat mir gesagt, dass du Stephania, die Adlige, die kurzzeitig Königin des Reichs war, seist“, sagte Ulren. „Du hast Gerüchte gestreut, um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Jetzt hast du sie. Ich hoffe, dass du das nicht bereuen wirst.“
Stephanias Lächeln wurde absichtlich noch breiter und sie griff nach seinem Arm. „Wie sollte ich es bereuen, den mächtigsten Mann der Welt zu treffen? Vor allem, da ich ihm einen Vorschlag zu unterbreiten habe?“
Sie beobachtete Ulrens Gesicht und versuchte sich nicht vorzustellen, wie es sein würde, mit ihm das Bett teilen zu müssen. Darüber konnte sie sich später den Kopf zerbrechen, und Stephania würde in jedem Fall alles tun, was notwendig war.
„Welche Art Vorschlag?“ fragte Ulren. Stephania konnte sehen, wie seine Blicke sie von oben bis unten hungrig verschlangen, so wie Männer es immer taten, wenn sie sie ansahen. Sie versteckte ihren Ekel.
„Einen Vorschlag“, sagte Stephania. „Wer würde außerdem einen besseren Ehemann dort draußen abgeben als Ihr?“
Ulren warf Stephania erneut einen Blick zu, dann schnipste er mit den Fingern. „Verstehe. Eine Adlige, die um Asyl bittet. Kettet sie an, zieht sie aus, brandmarkt sie und bringt sie in meine Gemächer. Ich werde mich ein Weilchen mit ihr vergnügen, bevor sie zu den Sklave umzieht.“
Stephania sah, wie die Ganoven auf sie zukamen, und für einen Augenblick musste sie daran denken, was Irrien ihr alles angetan hatte. Ulren hatte sie auch verachtet, doch wenigstens hatte er die Stärke besessen, sie für sich in Anspruch zu nehmen, und außerdem befand Stephania sich dieses Mal nicht inmitten einer Besatzung.
Die Frau kam auf sie zu. Die Ketten in ihrer Hand und ihr breites Grinsen verrieten, dass sie bereits mit diesem Ausgang gerechnet haben musste und sich darauf freute. Stephania schenkte ihr keine Beachtung und lief auf die anderen Wachen zu.
„Glaub nicht, dass du mir davonkommst“, sagte die Frau.
Die zwei Wachen versperrten Stephania den Weg. Sie rückten aufeinander zu und das war alles, was Stephania brauchte. Sie hob eine Hand und zog ein zusammengefaltetes Papier aus ihrem Mantel. Dann blies sie hinein.
Ein Pulver flog durch die Luft. Damit hatten die Wachen nicht gerechnet. Stephania hielt zur Sicherheit die Luft an, doch sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Die Wachen keuchten, als sie das Pulver inhalierten. Der nächste Atemzug verteilte das Pulver noch weiter in ihren Lungen. Einer griff sich an die Gurgel, als würde er sie so wieder öffnen können. Ein anderer suchte an der Wand Halt, um sich noch auf den Beinen zu halten.
Читать дальше