In einem plötzlichen ruhigen Moment, hörte Gwendolyn das schrille Weinen eines Babys. Für sie fühlte es sich an, als ob ihr jemand ein Messer in die Brust gerammt hatte. Sie musste an Guwayne denken, als das Weinen lauter wurde. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, und erinnerte sich immer wieder, dass es nicht Guwayne sein konnte. Ihr Sohn war weit fort von hier, mitten auf dem Ozean. Und doch wünschte sich ihr Herz, dass er hier war.
„Mein Baby!“, schrie Gwendolyn. „Er ist dort oben. Ich muss ihn retten!“
Gwendolyn rannte auf die Stufen zu, als sie plötzlich von starken Händen zurückgehalten wurde.
Sie fuhr herum und sah Reece.
„Gwendolyn“, sagte er. „Guwayne ist weit fort von hier. Das ist ein anderes Baby“
Gwendolyn wünschte sich so sehr, dass es nicht so war.
„Selbst wenn er es nicht ist. Es ist ein Baby“, sagte sie. „Es ist ganz allein dort oben. Ich kann es nicht sterben lassen!“
„Wenn du hinaufgehst“,,sagte Kendrick und musste husten, „müssen wir die Tore hinter dir schließen und du bist allein. Du wirst alleine dort oben sterben.“
Gwendolyn konnte nicht klar denken. Sie war überzeugt davon, dass dort oben ein Baby am Leben war, ganz allein, und sie wusste, dass sie es retten musste – koste es, was es wolle.
Gwendolyn befreite sich von Reeces Griff und rannte auf die Treppen. Sie nahm drei Stufen auf einmal, und bevor sie jemand erreichen konnte, hatte sie den Metallpfosten, mit dem sie die Türen verbarrikadiert hatten, gelöst und drückte mit aller Kraft gegen die Türen.
Sie schrie vor Schmerz auf, denn das Metall war so heiß, dass sie ihre Hände verbrannte. Erschrocken zog sie die Hände zurück. Doch sie war fest entschlossen. Schnell wickelte sie ihren Mantel um die Hände und drückte die Türen auf. Als sie an die Oberfläche stolperte, blinzelte sie ins Licht, dann hob sie die Hand vor die Augen. Schockiert starrte sie hinaus und erblickte die Zerstörung. Was bei ihrer Flucht in den Untergrund noch gestanden hatte, war nun nicht mehr als Haufen von rauchenden, verkohlten Trümmern.
Wieder hörte sie das Weinen des Babys, diesmal lauter. Gwendolyn sah sich um, und als sich die dunklen Rauchwolken lichteten, sah sie auf der anderen Seite des Hofes ein Baby, in eine Decke gewickelt, auf dem Boden liegen. Daneben sah sie seine Eltern, tot, bei lebendigem Leib verbrannt. Irgendwie hatte das Baby überlebt. Mit Grauen erkannte sie, dass die Mutter beim Versuch, es vor den Flammen zu schützen, gestorben war.
Plötzlich erschienen Kendrick, Reece, Godfrey und Steffen neben ihr.
„Mylady, Ihr müsst mit uns kommen“, drängte Steffen. „Wenn Ihr hier oben bleibt, werdet ihr sterben.“
„Aber das Baby!“, sagte sie. „Ich muss es retten!“
„Du kannst es nicht retten“, beharrte Godfrey. „Du würdest es niemals lebend zurück schaffen!“
Doch das war Gwendolyn egal. Sie konnte an nichts anderes mehr denken, als das Kind. Sie blendete alles andere aus, und wusste, dass sie es retten musste.
Die anderen versuchten, sie zurückzuhalten, doch sie ließ sich nicht beirren. Sie riss sich los, und rannte auf das Baby zu.
Sie rannte so schnell sie konnte, als sie durch die den immer noch brennenden Schutt rannte, umgeben von dunklen Rauchschwaden. Der Rauch gab ihr Deckung, sodass die Drachen sie nicht sehen konnten. Sie rannte durch die Wolken über den Hof, und nahm dabei nichts anderes wahr als das Baby, hörte nichts, außer seinen Schreien.
Sie rannte und rannte, bis ihre Lungen fast barsten, und endlich erreichte sie es.
Sie hob es auf, und sah ihm ins Gesicht – ein Teil von ihr erwartete, Guwayne zu sehen.
Doch er war es nicht. Es war ein Mädchen. Sie hatte riesige, blaue Augen, die voller Tränen waren und schrie und zitterte. Gwendolyn hatte das Gefühl, durch die Rettung des Mädchens wieder gut zu machen, dass sie Guwayne fortgeschickt hatte. Und schon nach dem ersten Blick in ihre Augen wusste Gwendolyn, dass sie wunderschön war.
Die Rauchwolken lichteten sich, und plötzlich stand Gwendolyn ohne Deckung mit dem weinenden Baby in den Armen auf dem Hof. Sie blickte auf und sah, kaum hundert Meter entfernt, ein Dutzend wilde Drachen mit riesigen glühenden Augen, die sie plötzlich anstarrten. Sie sahen sie mordlüstern an, und sie wusste, dass sie sich gleich auf sie stürzen würden.
Die Drachen schwangen sich in die Luft, und stürzten auf sie zu. Gwendolyn duckte sich über das Baby – sie wusste, dass sie es niemals rechtzeitig zurück schaffen würde.
Plötzlich hörte sie, wie Schwerter gezogen wurden, und als sie aufblickte, sah sie ihre Brüder, gemeinsam mit Steffen, Brandt, Atme und den Jungen der Legion mit gezogenen Schwertern und hoch erhobenen Schilden neben sich stehen. Sie bildeten einen Kreis um sie und hielten ihre Schilde in die Höhe, bereit, mit ihr zu sterben. Gwendolyn war von ihrem Mut zutiefst berührt.
Die Drachen stürzten auf sie zu, öffneten ihre Mäuler, und sie wappneten sich für die Flammen, die sie unausweichlich alle töten würden. Gwendolyn schloss ihre Augen und sah ihren Vater und alle Menschen, die ihr in ihrem Leben etwas bedeutet hatten, und war bereit, sie wiederzusehen.
Plötzlich hörte sie einen schrecklichen Schrei, und Gwendolyn zuckte zusammen, dann sie dachte, dass nun der Angriff folgen würde.
Doch dann erkannte sie, dass es nicht der Schrei der Angreifer gewesen war – es war der Schrei einer alten Freundin.
Gwendolyn blickte auf, und sah einen einsamen Drachen, der auf sie zustürzte, bereit sich in den Kampf gegen die anderen Drachen zu stürzen. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie auf dem Rücken des Drachen den Mann erblickte, den sie über alles liebte:
Thorgrin.
Er war zurückgekehrt.
Er ritt auf Mycoples Rücken, die Wolken schlugen ihm ins Gesicht. Sie flogen so schnell, dass er kaum atmen konnte, auf die Herde der Drachen zu. Thors Armreif pulsierte an seinem Handgelenk, und er spürte, dass seine Mutter ihm eine neue Macht gegeben hatte, die er kaum verstehen konnte; es war, als würden Zeit und Raum nicht existieren. Thor hatte kaum daran gedacht, zurückzufliegen, sie hatten sich kaum vom Ufer des Lands der Druiden in die Lüfte geschwungen, als sie plötzlich schon hier waren, über den Oberen Inseln, und auf eine Schar von Drachen zuflogen. Thor hatte das Gefühl, magisch hierher gebracht worden zu sein, als ob sie durch eine Spalte in Raum und Zeit gereist waren – als ob seine Mutter sie hierher gebracht hatte, ihm irgendwie das Unmögliche ermöglicht hatte, schneller zu fliegen als je zuvor. Seine Mutter hatte ihn mit diesem Geschenk in die Welt der Menschen zurückgeschickt.
Als Thor durch die Wolken blinzelte, kamen die riesigen Drachen ins Blickfeld, die die Oberen Inseln umkreisten, und sein Herz sank, als er sah, dass die Oberen Inseln bereits von einem Flammenteppich überzogen waren. Er fragte sich, ob irgendjemand das überlebt haben konnte – er bezweifelte es. War er zu spät gekommen?
Doch als Mycoples tiefer flog und näher kam, sah er eine einzelne Person, die ihn wie ein Magnet im Chaos anzog – Gwendolyn.
Dort stand seine künftige Gemahlin, stolz und furchtlos hielt sie ein Baby umklammert, umringt von all jenen Menschen, die Thor liebte. Mit erhobenen Schilden umringten sie sie, als die Drachen sich zum Angriff auf sie stürzten. Thor sah schockiert zu, wie die Drachen ihre riesigen Mäuler aufrissen, und sich anschickten, Feuer zu speien, das in wenigen Augenblicken Gwendolyn und alle, die er liebte, vernichten würden.
„Runter!“, schrie Thor Mycoples zu.
Doch sie brauchte keine Ermutigung: Sie tauchte schneller durch die Wolken, als Thor sich es vorstellen konnte, so schnell, dass er kaum atmen konnte, und er sich im fast senkrechten Sturzflug festklammern musste, um nicht herunterzufallen. Binnen weniger Augenblicke hatte sie die drei Drachen erreicht, die im Begriff waren, Gwendolyn anzugreifen, riss ihr Maul auf, streckte ihre Krallen aus und griff die nichts ahnenden Biester an.
Читать дальше