Mycoples Flammen wurden schwacher, und bald stieß sie nur noch Rauchwolken aus. Thor wusste, dass seine Freundin an der Schwelle des Todes stand. Sie sank immer tiefer, zu schwach, weiter Feuer zu speien. Doch sie konnte immer noch ihren Körper als Waffe benutzen. Sie stürzte auf die Schiffe zu, wie ein Meteor, der vom Himmel fiel.
Thor wappnete sich und hielt sich mit aller Kraft fest, als sie auf die Schiffe zuraste. Der Klan von splitterndem Holz erfüllte die Luft, als sie auf ein Schiff nach dem anderen einschlug und die Flotte zerstörte. Thor klammerte sich fest, während ihm aus allen Richtungen die Holzsplitter um die Ohren flogen.
Schließlich konnte Mycoples nicht mehr. Sie trieb mitten unter der Flotte auf dem Wasser – sie hatte eine Unzahl zerstört, doch sie waren immer noch von tausenden von Schiffen umgeben. Thor lag auf ihrem Rücken und atmete schwach.
Die verbliebenen Schiffe wandten sich gegen sie. Bald war der Himmel schwarz gefärbt und Thor hörte das Zischen von Pfeilen, die im hohen Bogen durch die Luft flogen. Ohne Deckung spürte er schreckliche Schmerzen, als er von Pfeilen durchbohrt wurde. Auch Mycoples wurde getroffen, und sie begannen unterzugehen, zwei große Helden, die die Schlacht ihres Lebens geschlagen hatten. Sie hatten die Drachen und einen großen Teil der Flotte des Empire vernichtet. Sie hatten mehr Schaden angerichtet, als eine ganze Armee. Doch nun war nichts mehr übrig. Sie konnten sterben. Als Thor von einem Pfeil nach dem anderen getroffen wurde und langsam versank, wusste er, dass nichts mehr zu tun blieb, außer sich auf den Tod vorzubereiten.
Alistair blickte nach unten und sah sich selbst auf der Brücke stehen. Als sie weiter in die Tiefe blickte, sah sie die Wellen, die sich an den Felsen brachen und hörte das Rauschen des Meeres. Ein starker Windstoß brachte sie aus dem Gleichgewicht, und als sie aufblickte, wie sie ihr Leben lang in so vielen Träumen getan hatte, sah sie das Schloss, das auf den Klippen lag und sie mit seinem goldenen Tor einlud. Davor stand eine einsame Gestalt, die ihr die Arme entgegenstreckte, also ob sie sie umarmen wollte – doch Alistair konnte ihr Gesicht nicht erkennen.
„Meine Tochter“, sagte die Frau.
Sie versuchte auf sie zuzugehen, doch ihre Beine waren wie angewurzelt. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass sie an die Brücke gefesselt war. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht bewegen.
Sie streckte ihre Hände nach ihrer Mutter aus und schrie verzweifelt: „Mutter, rette mich!“
Plötzlich hatte Alistair das Gefühl, als würde die Welt an ihr vorbeirauschen, fühlte, wie sie fiel und bemerkte, wie die Brücke unter ihr nachgab. Sie stürzte in die Tiefe, die Fesseln immer noch an den Füssen.
Als sie in das eiskalte Meer eintauchte, wurde ihr ganzer Körper taub. Sie spürte, wie sie immer tiefer versank und sah, wie das Licht, das durch das Wasser in die Tiefe drang, immer schwächer wurde.
Alistair öffnete die Augen und fand sich in einer kleinen steinernen Zelle wieder, an einem Ort, der ihr fremd erschien. Vor ihr saß eine einsame Gestalt, die sie vage erkannte: Es war Erecs Vater, der sie böse ansah.
„Du hast meinen Sohn getötet“, sagte er. „Warum hast du das getan?“
„Aber ich habe ihn nicht getötet!“, protestierte sie schwach.
Er blickte böse auf sie herab.
„Dafür wirst du zum Tode verurteilt werden!“, fügte er hinzu.
„Ich habe Erec nicht umgebracht!“, protestierte sie erneut, und versuchte zu ihm zu gelangen, doch wieder fand sie sich gefesselt, unfähig, sich zu bewegen.
Hinter Erecs Vater erschienen plötzlich zwölf Wachen in schwarzer Rüstung mit feinen Visieren, und der Klang ihrer klirrenden Sporen erfüllte den Raum. Sie kamen auf sie zu, ergriffen sie, und rissen sie von der Wand weg. Doch ihre Füße steckten immer noch in den Fesseln, und sie dehnten ihren Körper immer weiter.
„Nein!“, schrie Alistair.
Alistair erwachte schweißgebadet, und sah sich um. Verwirrt versuchte sie sich zu erinnern, wo sie war. Sie war desorientiert; sie kannte die kleine, finstere Zelle, in der sie saß nicht, das alte Gemäuer, die eisernen Gitter an den Fenstern. Sie fuhr herum und wollte einen Schritt machen, als sie das Rasseln der Fesseln an ihren Knöcheln hörte und sah, dass sie an die Wand gefesselt war.
Sie versuchte, die Fesseln zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Das kalte Eisen schnitt ihr in die Haut.
Alistair versuchte, sich zu orientieren, und erkannte, dass sie in einer teilweise unterirdischen Zelle saß, deren einzige Lichtquelle ein winziges Fenster war, das von Eisengittern versperrt wurde. Aus der Ferne hörte sie Jubel, und ging so dicht ans Fenster, wie es ihre Fesseln erlaubten. Sie lehnte sich vor, um zu sehen wo sie war, und was draußen vor sich ging.
„Die Hexenkönigin hat versucht, ihren Gemahl zu töten!“, polterte Bowyer in der Menge. „Sie kam mit einem Plan auf mich zu, Erec zu töten, und mich an seiner statt zu heiraten. Doch ihr Plan wurde vereitelt!“
Empörte Schreie erhoben sich aus der Menge, und Bowyer wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Er hob seine Hände und sprach erneut.
„Ihr könnt beruhigt sein. Die Südlichen Inseln werden nicht unter Alistairs Herrschaft stehen, oder der Herrschaft irgendeines anderen. Ich werde euch regieren! Nun, wo Erec im Sterben liebt, werde ich, Bowyer euch schützen, ich, der nach Erec als Bester im Tournier abgeschnitten habe!“
Die Menge brüllte zustimmend und begann zu singen:
„König Bowyer, König Bowyer!“
Schockiert betrachtete Alistair die Szene. Alles war so schnell geschehen, dass sie es kaum verarbeiten konnte. Dieses Monster! Der bloße Anblick Bowyers erfüllte sie mit Wut. Der Mann, der versucht hatte, ihren Geliebten zu töten, stand hier, direkt vor ihren Augen und behauptete, unschuldig zu sein, und auch noch ihr die Schuld zu geben. Doch viel schlimmer war, dass er womöglich zum König ernannt wurde. Gab es denn gar keine Gerechtigkeit?
Doch was draußen vor sich ging, machte ihr viel weniger aus, als der Gedanke an Erec, der im Krankenbett lag und immer noch auf ihre heilenden Kräfte wartete. Sie wusste, dass er sterben musste, wenn sie ihm nicht bald zur Hilfe kam. Es war ihr egal, dass sie den Rest ihres Lebens in einem Kerker verbringen sollte, für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatte – alles was sie wollte, war Erec zu heilen.
Plötzlich wurde die Tür zu ihrer Zelle aufgeschlagen, und als Alistair herumfuhr, sah sie eine große Gruppe von Leuten eintreten. In ihrer Mitte war Dauphine, flankiert von Erecs Bruder Strom und seiner Mutter. Hinter ihnen waren mehrere königliche Wachen.
Alistair stand auf, um sie zu begrüßen, doch die Fesseln schnitten in ihre Haut und schickten einen stechenden Schmerz durch ihre Beine.
„Geht es Erec gut?“, fragte sie verzweifelt. „Bitte sagt es mir. Lebt er noch?“
„Wie kannst du dich wagen, zu fragen, ob er noch am Leben ist“, schnappte Dauphine.
Alistair wandte sich Erecs Mutter zu. Wenigstens von ihr erhoffte sie sich Erbarmen.
„Bitte, sagt mir nur, ob er noch am Leben ist“, bettelte sie, wobei ihr fast das Herz brach.
Seine Mutter nickte ernst, und sah sie enttäuscht an.
„Er lebt“, sagte sie leise. „Doch er ist schwer verletzt.“
„Bitte bringt mich zu ihm“, bat Alistair. „Bitte. Ich kann ihn heilen!“
”Dich zu ihm bringen?“, echote Dauphine. „Diese Frechheit! Ich werde dich auf keinen Fall in die Nähe meines Bruders lassen – du gehst nirgendwo hin. Wir sind gekommen, um dich ein letztes Mal vor der Hinrichtung zu sehen.“
Alistair erschrak.
„Hinrichtung?“, fragte sie. „Gibt es denn keine Richter und keine Jury auf dieser Insel? Keine Gerechtigkeit?“
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