Während Daniel parkte, schnallte sich Chantelle schon ab und griff nach dem Türöffner.
„Nicht so schnell“, ermahnte Daniel. „Wir müssen die Hunde zuerst an die Leine nehmen, sonst rennen sie davon und wir sehen sie nie wieder.“
„Tut mir leid“, erwiderte Chantelle, die ihren Kopf beschämt hängen ließ.
Daniel sah Emily mit flehendem Blick an, doch diese schüttelte nur den Kopf, um ihm stumm mitzuteilen, dass er keinen Aufstand machen sollte, und dass sie nichts tun konnten, um dem Mädchen zu helfen, sondern dass Chantelle nur durch Liebe, Zeit und Geduld lernen konnte, sich nicht für sich und ihr Handeln zu schämen. Ihr tat Daniel leid, denn er schien in solchen Situationen einfach nicht zu wissen, was er tun sollte. Er schien dann immer heillos überfordert zu sein, wohingegen Emily ihre Mutterrolle annahm, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Nachdem Emily den Hunden die Leine angelegt hatte, stiegen sie alle aus. Andere Familien liefen umher, deren Kinder lachten und spielten und im Kreis um ihre Eltern herumrannten. Während sie auf den Eingang der Fall Farm zugingen, umgeben von anderen, sich miteinander unterhaltenden Familien, wurde Emily klar, wie sehr sich ihr Leben doch im Laufe des vergangenen Jahres verändert hatte.
„Komm schon, Emily!“, rief Chantelle.
Emily, die von Chantelles Worten aus ihren Gedanken gerissen worden war, blickte auf und sah, dass sich das Mädchen mit Daniel bereits am Verkaufsstand befand und auf ihren Korb zum Apfelpflücken wartete. Chantelle zog an Daniels Hand, genau, wie Rain an seiner Leine ziehen würde. Daniel lachte und schenkte Emily ein Lächeln, das diese noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Es war offensichtlich, dass er überglücklich war, Chantelle bei sich zu haben und hier als Familie zu sein.
Schnell ging Emily zu ihnen und ergriff Chantelles andere Hand, die sie ihr entgegenstreckte. Zusammen traten sie an den Verkaufsstand und holten ihren Korb. Dann machten sie sich auf in den Obsthain.
„Lass uns die saftigsten und rötesten Äpfel finden“, flüsterte Emily Chantelle aufgeregt zu. „Ich wette, dass sie weiter hinten im Feld liegen.“
Chantelle nickte mit weiten Augen, denn Emilys verschwörerischer Ton weckte die Aufregung in ihr.
Emily sah zu Daniel auf. Dieser lächelte sie breit an und in seinen Augen lag ein Hauch Stolz, was Emily unwillkürlich zum Erröten brachte.
Als sie damit begannen, ihre Körbe mit saftigen Äpfeln zu füllen, erkannte Emily, dass sie so viel Spaß hatte wie schon lange nicht mehr. Daniel lachte ebenfalls fröhlich wie ein Kind. Er rannte umher, hob Chantelle hoch, wirbelte sie im Kreis herum und trug sie auf seinem Rücken, damit sie auch die höchsten Äste erreichen konnte. Emily hatte Daniels verspielte Seite noch nie zuvor erlebt und konnte nun ihre Freude kaum beherrschen.
„Das macht Spaß, nicht wahr?“, bemerkte Daniel, als er auf Emily zu joggte.
„Ich glaube, ich hatte seit meiner Kindheit nicht mehr so viel Spaß“, erwiderte Emily.
„Ich auch nicht“, meinte Daniel.
Emily wurde ganz warm. Mit Chantelle zusammen zu sein schien die Wunden ihrer traumatischen Vergangenheiten zu heilen.
*
Nach dem Apfelpflücken beschloss Emily, dass Chantelle ein paar neue Kleider gebrauchen könnte. Das kleine Mädchen konnte schließlich nicht jede Nacht in Daniels Hemd schlafen, vor allem, da kühleres Wetter im Anmarsch war. Sie würde Schlafanzüge, Unterwäsche, einen Mantel, Handschuhe und Kleider für die Schule brauchen. Sie hatte solch einen kleinen Rucksack dabeigehabt mit so wenigen Dingen, dass Emily ihr praktisch eine komplette Garderobe kaufen musste.
„Nur Mädchen dürfen mitkommen“, bestimmte Chantelle, als sie das Auto erreichten.
Emily wusste, dass dieser Kommentar Daniel verletzen würde, besonders nach der schönen Zeit, die sie gemeinsam auf der Farm verbracht hatten. Dass Chantelle ihn ausgerechnet jetzt ausschloss, würde ihn verwirren und schmerzen.
Und auch wenn Emily wusste, dass er diese Möglichkeit, seiner Tochter näher zu kommen, nicht verpassen wollte, so wusste sie doch auch, dass er nicht gegen ihr Wünsche handeln und das kleine Mädchen zu etwas drängen würde, dass es nicht wollte.
Emily sah zu Chantelle hinab und drückte ihre Hand fest. „Dein Daddy hat keinen sonderlich guten Modegeschmack, hm?“, meinte, sie, um die Situation etwas aufzulockern.
Chantelle begann zu kichern.
„Dann werde ich euch mal gehen lassen, damit ihr euch einen schönen Mädels-Tag machen könnt“, sagte Daniel mit niedergeschlagener Stimme.
„Wenn wir nach Hause kommen, veranstalten wir für dich eine Modenschau“, entgegnete Emily in dem Versuch, seine Laude aufzuhellen, indem sie ihn mit einbezog.
Emily und Chantelle winkten Daniel und den Hunden zum Abschied zu und begannen, die Straßen Sunset Harbors entlang zu spazieren. Obwohl es in der Stadt nicht viele Läden gab, die Kinderkleider verkaufen, kannte Emily ein gutes Geschäft, das in einer Seitenstraße lag und Vintage-Kleider und Kindersachen verkaufte. Sie hatte schon vor Augen, wie schön Chantelle in einem Dufflecoat im Vintagestil aussehen würde, auch wenn sie sich insgeheim etwas Sorgen machte, dass Chantelle Emilys Stil altmodisch finden würde. Emily hatte keine Ahnung, was Kinder heutzutage trugen.
Sie gingen um eine Straßenecke herum und Emily führte Chantelle in einen der Vintage-Kleidergeschäfte.
„Also, wenn dir die Sachen, die ich heraussuche, nicht gefallen, dann sag es mir bitte“, erklärte Emily. „Ich will nicht, dass du etwas trägst, in dem du dich nicht wohlfühlst oder das dir nicht gefällt.“
Emily wollte, dass Chantelle zu den anderen Kindern, die sie in der Schule treffen würde, passte. Sie befand sich durch die Vernachlässigung in ihrer Kindheit bereits im Nachteil, das letzte, was Emily nun wollte, war, dass sie wegen ihrer Kleiderwahl ausgegrenzt wurde!
„Oh, Chantelle. Wie findest du diesen Mantel?“, fragte Emily, während sie einen royal blauen Dufflecoat mit großen Knöpfen hochhielt. Sie stellte sich vor, dass Sara Crewe in Little Princess genau so einen Mantel trug.
Chantelle war überwältigt. Sie streckte ihre Hand aus und nahm den Mantel, dann rieb sie den Stoff an ihre Wange. Das Futter bildete eine wundervolle Zusammenstellung von zartrosa, grünen und gelben Blumen.
„Gefällt dir das Futter?“, wollte Emily wissen.
Chantelle nickte, weshalb Emily sich eine gedankliche Notiz machte, nach weiteren Kleidungsstücken mit Blumenmuster für sie Ausschau zu halten.
Chantelle nahm den Mantel vom Kleiderbügel und zog in an. Genau wie Emily vorhergesehen hatte, sah sie einfach wunderbar in dem Mantel aus, als ob sie aus einem Roman von Dickens herausgetreten wäre. Als Chantelle sich selbst im Spiegel betrachtete, begannen ihre Augen mit Tränen zu glänzen.
„Wir müssen ihn nicht kaufen, wenn er dir nicht gefällt“, meine Emily, plötzlich besorgt.
Chantelle schüttelte ihren Kopf. „Das ist es nicht. Ich wusste einfach nicht, dass ich schön sein kann.“
Zum hundertsten Mal, seit das kleine Mädchen in ihr Leben getreten war, spürte Emily, wie ihr Herz zerbrach. Hatte Chantelle in ihrem ganzen Leben denn noch nie gesagt bekommen, wie schön sie war? Es würde noch ein ganzes Stück Arbeit vor ihnen liegen, wenn sie Chantelles Selbstbewusstsein wiederaufbauen wollten.
Emily und Chantelle verbrachten eine gute Stunde in dem Vintageladen, in dem sie Kleider und Oberteile, putzige Leggins und Rollkragenpullover anprobierten. Emily wusste nicht, ob sie einfach nur voreingenommen war, aber Chantelle sah in all den Outfits einfach wunderbar aus, wie ein Kindermodel. Es war erstaunlich, die Verwandlung in ihr zu sehen, nicht nur physisch, sondern auch in ihrem Verhalten, denn Chantelle fühlte sich immer wohler, wurde selbstsicherer und offener in ihren Entscheidungen. Für ein kleines Kind, das nie die Chance gehabt hatte, seine Kleider selbst auszusuchen, hatte sie eine äußerst kreative Ader. Nach einer Stunde hatten sie fünf neue Outfits gefunden.
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