Das Gesicht des Mannes sah ihn vom Bildschirm an. Dunkle, markante Züge, tief in ihren Höhlen liegende Augen, düsterer Blick: ein Kriminaler, wie er im Buche stand. Und zwar genau der Typ, mit dem sich Futawatari schwertat. Wobei er für dieses Urteil, das noch aus Osakabes aktiver Dienstzeit herrührte, gar keine rechte Begründung hätte liefern können. Letztlich hatte er kaum direkten Kontakt mit dem Mann gehabt, auch wenn sie über zwanzig Jahre demselben Apparat angehört hatten. Die Male, die er bei Osakabe im Büro gewesen war – um mit ihm eine Personalfrage zu klären oder sich seine Budgetforderungen anzuhören –, konnte er an den Fingern einer Hand abzählen. Osakabes Reich war der vierte Stock mit den diversen Dezernaten des KUA gewesen, das von Futawatari war die erste Etage mit ihren dort versammelten Verwaltungsfunktionen.
Futawatari machte sich klar, dass er an ihm nur den finsteren Ausdruck kannte, den er auch jetzt auf dem Foto sah. Er konnte sich nicht erinnern, je erlebt zu haben, dass der Mann lachte oder sich über etwas aufregte.
Es hilft nichts. Ich muss ihn mir persönlich vornehmen.
Futawatari versuchte sich Mut zu machen, während er Osakabes Privatadresse notierte.
Abbezahltes Eigenheim. Frau und drei Töchter. Die beiden älteren schon länger verheiratet. Die jüngste derzeit wohnhaft in Tokio.
Er gab Uehara, dessen Stirn inzwischen glänzte von Schweiß, noch einige Hinweise und verließ dann das Gebäude. Der Wind blies kalt, er schlug den Kragen hoch.
Es war schon nach Mitternacht.
Es ergab keinen Sinn. Warum weigerte sich Osakabe, den Posten zu räumen? Waren ihm drei Jahre zu wenig gewesen? Hatte er sich zu sehr an seine Privilegien gewöhnt? Beide Theorien schienen zu kurz zu greifen. Zu lebhaft stand ihm das Bild aus Osakabes Akte vor Augen, auf das er vor einer Minute noch gestarrt hatte. Meinte der Mann es ernst? Wollte er wirklich seinen Stolz begraben und mit der Polizei brechen? Sich der Industrie verkaufen, eintauchen in diesen Sumpf der Korruption?
Ausgerechnet Direktor Osakabe …
»Lächerlich«, murmelte Futawatari und wandte sich vom Hauptgebäude ab, das nun fast völlig im Dunkeln lag.
Bis die internen Bescheide über die Versetzungen im höheren Dienst versandt würden, blieben noch fünf Tage. Was immer dahintersteckt, ich gehe gleich morgen früh zu ihm. Futawatari beschleunigte seinen Schritt, als er auf den Parkplatz zuhielt, und die Unruhe, die ihn antrieb, war von ganz anderer Art als die, mit der er vorhin Direktor Oguros Büro betreten hatte.
Am nächsten Morgen fuhr ihm Osakabe vor der Nase weg.
Futawatari hatte schon um sechs Uhr die Wohngegend erreicht, in der Osakabe lebte. Das Schild mit dem Namen der Familie war nicht schwer zu finden gewesen. Das zweigeschossige Haus hinter der hohen Glanzmispelhecke wirkte auffällig bescheiden für einen Mann, der den Rang eines Direktors innegehabt hatte. Es war eine alte Gegend mit den traditionellen schmalen Sträßchen. Da es Futawatari ungehörig erschien, vor der Haustür des Mannes zu parken, hatte er gewendet und war zurück zu einem Stück Wiese am Fluss gefahren. Das sind nur ein paar Minuten zu Fuß. Ich gehe ums Haus herum, halte die Augen offen, und wenn es so aussieht, als hätten sie fertig gefrühstückt, klingle ich. So hatte sich Futawatari sein Vorgehen zurechtgelegt und war aus dem Auto gestiegen.
Nach nur wenigen Metern überholte ihn eine schwarze Limousine aus Richtung Stadt. Hinterm Steuer sah er einen Mann mit grau melierten Haaren. Er trug keine Krawatte, aber ein Jackett, hatte muskulöse Schultern und schneeweiße Handschuhe an den Händen. Bis die Erkenntnis einsickerte, war es schon zu spät. Der Wagen bog in das Wohngebiet ein.
Futawatari war bleich vom Rennen, als vor ihm die rot austreibende Hecke in Sicht kam. Die weißen Handschuhe schlossen bereits die hintere Wagentür. Schwer atmend und außerstande zu rufen, hatte er dastehen und zuschauen müssen, wie Osakabes Profil im Rückfenster an ihm vorbeiglitt.
Auch jetzt, wieder an seinem Schreibtisch in der Verwaltung, hing ihm der morgendliche Fehlschlag noch nach. Es war halb acht vorbei, und seine Kollegen kamen langsam hereingetröpfelt. Er war fast immer als Erster im Büro, deshalb wunderte sich niemand, ihn zu sehen. Im Zweifel nahmen sie an, dass er die Nacht im Sommerhaus verbracht hatte, mit der Arbeit am Versetzungspuzzle oder einer anderen eiligen Aufgabe. Er griff nach dem Hörer und drückte die Wahlwiederholung. Langsam, aber sicher wurde er ungeduldig. Das war jetzt sein vierter Versuch. Das Telefon klingelte und klingelte; offenbar war in der Stiftung immer noch niemand am Platz.
Wo sind Sie?
Osakabe war in aller Frühe abgeholt worden. Dennoch war er noch nicht in der Stiftung angekommen. Möglicherweise nahm er ja einen frühen Termin wahr, vielleicht irgendwo in den Bergen.
Futawatari stand auf und drückte erneut die Wahlwiederholungstaste. Er hatte gerade aufgegeben, da kam Saito, eine der wenigen Frauen in der Verwaltung, mit dem Kaffee herein. Er dankte ihr, bat sie, ihn einfach auf den Tisch zu stellen, damit er ihn später trinken konnte, und verließ das Büro. Oguro und Shirota würden bald da sein. Von dem Debakel des Morgens mochte er ihnen nicht berichten, und auf das Trommelfeuer von Fragen, die sie zweifellos stellen würden, hatte er ebenfalls keine Lust.
Er schaute im Sommerhaus vorbei. Wie erwartet war Uehara da; wie festgewachsen saß er vor seinem Computer und starrte aus blutunterlaufenen Augen auf den Bildschirm. Bis zur Glatze war es bei ihm nicht mehr lang hin, aber das noch vorhandene Haar verriet eindeutig, dass er nicht daheim gewesen war, um zu duschen.
Futawatari blieb ein bisschen, um ihm beim Puzzeln zu helfen, während er bei sich das Für und Wider eines Überraschungsbesuchs in der Stiftung abwog.
Wenn es Osakabe tatsächlich ernst damit war, im Amt zu bleiben, würde er alles tun, um den Schergen der Verwaltung aus dem Weg zu gehen, gerade in dieser heiklen Phase. Ein Tag war schon verstrichen, nur noch vier waren übrig, bis die Bescheide ergingen. Wenn Futawatari sich ankündigte, wenn er es an den nötigen Vorsichtsmaßnahmen fehlen ließ, dann bestand die Gefahr, dass Osakabe abtauchte. In dem Fall war die Schlacht vorüber, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Aber eigentlich konnte sich Futawatari nicht vorstellen, dass ein Mann wie Osakabe sich drückte. Und falls er nicht da war, wenn Futawatari ankam, würde irgendwer in der Stiftung ihm ja wohl über seinen Verbleib Auskunft geben können. Es war fast schon Mittag, als Futawatari die Möglichkeiten im Geist oft genug durchgespielt hatte und den noch immer verzagt dreinblickenden Uehara sich selbst überließ.
Bis zu Haus F ging man nur fünf Minuten zu Fuß. Der moderne Büroturm ragte über dem restlichen Stadtbild auf, schmuck anzusehen mit seinen bläulich getönten Scheiben, die die stetig ziehenden Wolken spiegelten. Im Innern trug ein Hochgeschwindigkeitslift Futawatari pfeilschnell in die elfte Etage hinauf. Dort folgte er dem Hinweisschild den Gang entlang und entdeckte nur ein paar Türen weiter den Namenszug der Stiftung. Das Büro war größer, als er erwartet hatte. An die zehn Schreibtische standen in großzügigem Abstand zueinander, mit geschickt aufgestellten, dicht belaubten Zimmerpflanzen als Sichtschutz. Schon eine davon auch nur geringfügig zu verschieben hätte genügt, um dem Ganzen einen Anstrich des Improvisierten, erst im Aufbau Begriffenen zu verleihen.
An der rechten Wand hing eine riesige topografische Karte. Der großflächige Plan der Präfektur war mit einer Unzahl bunter Nadeln besteckt. Von diesen Nadeln gingen rote Linien aus, die zusammen ein sternförmiges Muster bildeten: das Straßennetz der Präfektur. Futawatari hatte das Gefühl, ein Kunstwerk zu bewundern.
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