Die absolute Herrschaft, die das Sprachgesetz der winzigen Gruppe, ja des einen Mannes ausübte, erstreckte sich über den gesamten deutschen Sprachraum mit um so entschiedenerer [33]Wirksamkeit, als die LTI keinen Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kannte. Vielmehr: alles in ihr war Rede, mußte Anrede, Anruf, Aufpeitschung sein. Zwischen den Reden und den Aufsätzen des Propagandaministers gab es keinerlei stilistischen Unterschied, weswegen sich denn auch seine Aufsätze so bequem deklamieren ließen. Deklamieren heißt wörtlich: mit lauter Stimme, tönend daherreden, noch wörtlicher: herausschreien. Der für alle Welt verbindliche Stil war also der des marktschreierischen Agitators.
Und hier tut sich unter dem offen zutage liegenden Grund ein tieferer für die Armut der LTI auf. Sie war nicht nur deshalb arm, weil sich jedermann zwangsweise nach dem gleichen Vorbild zu richten hatte, sondern vor allem deshalb, weil sie in selbstgewählter Beschränkung durchweg nur eine Seite des menschlichen Wesens zum Ausdruck brachte.
Jede Sprache, die sich frei betätigen darf, dient allen menschlichen Bedürfnissen, sie dient der Vernunft wie dem Gefühl, sie ist Mitteilung und Gespräch, Selbstgespräch und Gebet, Bitte, Befehl und Beschwörung. Die LTI dient einzig der Beschwörung. In welches private oder öffentliche Gebiet auch immer das Thema gehört – nein, das ist falsch, die LTI kennt so wenig ein privates Gebiet im Unterschied vom öffentlichen, wie sie geschriebene und gesprochene Sprache unterscheidet –, alles ist Rede, und alles ist Öffentlichkeit. »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, heißt eines ihrer Spruchbänder. Das bedeutet: du bist nie mit dir selbst, nie mit den Deinen allein, du stehst immer im Angesicht deines Volkes.
Es wäre deshalb auch irreführend, wollte ich sagen, die LTI wende sich auf allen Gebieten ausschließlich an den Willen. Denn wer den Willen anruft, ruft immer den Einzelnen, auch wenn er sich an die aus Einzelnen zusammengesetzte Allgemeinheit wendet. Die LTI ist ganz darauf gerichtet, den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum gedanken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen. Die LTI ist die Sprache des [34]Massenfanatismus. Wo sie sich an den Einzelnen wendet, und nicht nur an seinen Willen, sondern auch an sein Denken, wo sie Lehre ist, da lehrt sie die Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion.
Die französische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hat zwei Lieblingsausdrücke, -themen und -sündenböcke: Priestertrug und Fanatismus. Sie glaubt nicht an die Echtheit priesterlicher Gesinnung, sie sieht in allem Kult einen Betrug, der zur Fanatisierung einer Gemeinschaft und zur Ausbeutung der Fanatisierten erfunden ist.
Nie ist ein Lehrbuch des Priestertrugs – nur sagt die LTI statt Priestertrug: Propaganda – mit schamloserer Offenheit geschrieben worden als Hitlers »Mein Kampf«. Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reichs bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte. Und nie, im ganzen achtzehnten Jahrhundert Frankreichs nie, ist das Wort Fanatismus (mit dem ihm zugehörigen Adjektiv) so zentral gestellt und bei völliger Wertumkehrung so häufig angewandt worden wie in den zwölf Jahren des Dritten Reichs.
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre lernte ich einen jungen Menschen kennen, der sich soeben als Offiziersaspirant zur Reichswehr gemeldet hatte. Seine angeheiratete Tante, Witwe eines Kollegen von der Hochschule, sehr weit links stehend und leidenschaftliche Verehrerin Sowjetrußlands, führte ihn mit einer Art Entschuldigung bei uns ein. Er sei ein wirklich guter und gutmütiger Junge und habe seinen Beruf in aller Herzensreinheit ohne Chauvinismus und Blutgier gewählt. In seiner Familie würden die Söhne seit Generationen Pfarrer oder Offizier, der verstorbene Vater sei Pfarrer gewesen, Theologie studierte schon der ältere Bruder, also betrachtete er, der Georg, zumal er ein ausgezeichneter Turner und schlechter Lateiner sei, die Reichswehr als den für ihn gegebenen Ort; und sicher würden es seine Leute einmal gut bei ihm haben.
Wir waren dann des öftern mit Georg M.zusammen und fanden das Urteil seiner Tante durchaus zutreffend.
Ja, er legte noch eine harmlose und selbstverständliche Grundanständigkeit an den Tag, als es um ihn herum schon nicht mehr so grundanständig zuging. Von seiner Stettiner Garnison aus, wo er auf die Beförderung zum Leutnant wartete, besuchte er uns mehrmals in Heringsdorf, obwohl damals die Ideen des Nationalsozialismus schon stark um sich griffen und vorsichtige Akademiker und Offiziere es bereits vermieden, in linksgerichteten, und nun gar jüdischen Kreisen zu verkehren.
Bald danach wurde M. als Leutnant in ein Königsberger Regiment versetzt, und wir hörten jahrelang nichts mehr von ihm. Nur einmal erzählte seine Tante, er werde jetzt zum Flieger ausgebildet und fühle sich als Sportler glücklich. – –
Im ersten Jahr des Hitlerrégimes – ich war noch im Amt und suchte mir noch alle nazistische Lektüre fernzuhalten – fiel mir ein 1929 erschienenes Erstlingswerk in die Hand, Max René[36] Hesses»Partenau«. Ich weiß nicht, ob es im Titel selber oder nur auf dem Waschzettel »Der Roman der Reichswehr« hieß; jedenfalls prägte sich mir die generelle Bezeichnung ein. Künstlerisch war es ein schwaches Buch: Novelle im noch unbewältigten Romanrahmen, zuviel schattenhaft bleibende Leute neben den zwei Hauptgestalten, zuviel ausgesponnene strategische Pläne, die nur den Fachmann, den angehenden Generalstäbler interessieren, eine unausbalancierte Leistung.
Aber der Inhalt, der nun doch die Reichswehr charakterisieren sollte, frappierte mich sofort und ist später wieder und wieder in meinem Gedächtnis aufgetaucht. Die Freundschaft des Oberleutnants Partenau und des Junkers Kiebold. Der Oberleutnant ist ein militärisches Genie, ein verbohrter Patriot und ein Homosexueller. Der Junker möchte nur sein Jünger sein, aber nicht sein Geliebter, und der Oberleutnant erschießt sich. Er ist durchaus als tragische Gestalt gedacht: die Sexualverirrung wird einigermaßen ins Heroische eigentlicher Männerfreundschaft glorifiziert, und der unbefriedigte Patriotismus soll wohl an Heinrich von Kleist erinnern. Das Ganze ist im expressionistischen, bisweilen pretiös geheimnisvollen Stil der Kriegs- und ersten Weimarer Jahre geschrieben, etwa in Fritz von UnruhsSprache. Aber Unruh und die deutschen Expressionisten jener Zeit waren Friedensfreunde, waren humanitär und bei aller Heimatliebe weltbürgerlich gesinnt. Partenau dagegen ist erfüllt von Revanchegedanken, und seine Pläne sind keineswegs bloße Hirngespinste; er spricht von schon vorhandenen »unterirdischen Provinzen«, von dem unterirdischen Bau »organisierter Zellen«. Was noch fehle, sei einzig ein überragender Führer. »Nur ein Mann, mehr als ein Kriegsmann und Bauherr, vermöchte ihre geheime schlafende Kraft zu einem gewaltigen und geschmeidigen Werkzeug lebendig zu machen.« Findet sich dieses Führergenie, dann wird es Raum schaffen für die Deutschen. Fünfunddreißig Millionen Tschechen und andere nichtgermanische Völker wird der Führer nach Sibirien verpflanzen, und ihr jetziger europäischer Raum wird dem deutschen Volke zugute kommen. Das hat ein Anrecht darauf durch [37]seine menschliche Überlegenheit, wenn auch sein Blut seit zweitausend Jahren »mit Christentum durchseucht ist« …
Der Junker Kiebold ist von den Ideen seines Oberleutnants enthusiasmiert. »Für Partenaus Träume und Gedanken würde ich morgen schon sterben«, erklärt er; und zu Partenau selbst sagt er später: »Du warst der erste Mensch, den ich ruhig fragen konnte, was eigentlich Gewissen, Reue, Moral neben Volk und Land bedeuten, worüber wir dann gemeinschaftlich in tiefstem Unverständnis den Kopf geschüttelt haben.«
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