Unten im großen Keller saß die Judengruppe um einen Pfeiler herum, zusammengedrängt und deutlich abgetrennt von der arischen Belegschaft. Aber der Abstand von den arischen Bänken war ein geringer, und Unterhaltungen der vorderen Reihen drangen zu uns. Alle zwei, drei Minuten hörte man den Situationsbericht des Lautsprechers. »Der Verband ist nach Südwesten abgeschwenkt … Neues Geschwader nähert sich von Norden. Gefahr eines Angriffes auf Dresden besteht.«
Stocken der Gespräche. Dann sagte eine dicke Frau auf der vordersten Bank, eine sehr fleißige und geschickte Arbeiterin, sie bedient die große komplizierte Maschine der »Fensterkuverts« –, sie sagt es lächelnd mit ruhiger Gewißheit: »Sie kommen nicht, Dresden bleibt verschont.« – »Weshalb?« fragt ihre Nachbarin. »Glaubst du auch den Unsinn, daß sie aus Dresden die Hauptstadt der Tschechoslowakei machen wollen?« – »O nein, ich habe eine bessere Gewißheit.« – »Welche denn?« Die Antwort erfolgt mit einem schwärmerischen Lächeln, das merkwürdig in dem derben und ungeistigen Gesicht steht. »Wir haben es zu dritt deutlich [113]gesehen. Letzten Sonntag mittag bei der Annenkirche. Der Himmel war frei bis auf ein paar Wölkchen. Mit einem Male zog sich die eine dieser kleinen Wolken so zurecht, daß sie ein Gesicht bildete, ein ganz scharfes, ganz einmaliges Profil (sie sagte wirklich ›einmalig‹!). Wir haben es alle drei sofort erkannt. Mein Mann rief zuerst: das ist doch der Alte Fritz, ganz so wie man ihn immer abgebildet sieht!«
»Na, und?« – »Was noch?« – »Was hat das alles mit unserer Sicherheit in Dresden zu tun?« – »Wie kann man so dumm fragen? Ist nicht das Bild, das wir alle drei gesehen haben, mein Mann, mein Schwager und ich, ist es nicht ein sicheres Zeichen dafür, daß der Alte Fritz über Dresden wacht? Und was kann einer Stadt geschehen, die er beschützt? … Hörst du? Da wird schon entwarnt, wir können hinaufgehen.«
Natürlich war es eine Ausnahme, daß sich vier solcher Offenbarungen eines Geisteszustandes in einen Tag zusammendrängten. Aber der Geisteszustand selber beschränkte sich nicht auf den einen Tag und war nicht auf diese vier Leute beschränkt.
Keines dieser vier war ein richtiger Nazi.
Am Abend hatte ich Luftwache; der Weg zum arischen Wachraum führte in ein paar Metern Abstand an meinem Sitzplatz vorbei. Während ich in einem Buch las, grüßte die Fridericus-Schwärmerin im Vorbeigehen laut: »Heil Hitler!« Am nächsten Morgen kam sie zu mir heran und sagte in herzlichem Ton: »Entschuldigen Sie bitte mein ›Heil Hitler!‹ von gestern; ich habe Sie im eiligen Vorbeigehen mit einem verwechselt, den ich so grüßen mußte.«
Keines war ein Nazi, aber vergiftet waren sie alle.
[114]XVII System und Organisation
Es gibt das Kopernikanische System, es gibt mancherlei philosophische und mancherlei politische Systeme. Wenn aber der Nationalsozialist »das System« sagt, so meint er ausschließlich das System der Weimarer Verfassung. Das Wort ist in dieser Spezialanwendung der LTI – nein, vielmehr erweitert zur Bezeichnung des gesamten Zeitabschnittes von 1918 bis 1933 – sehr rasch populär geworden, ungleich populärer als etwa die Epochebezeichnung Renaissance. Schon im Sommer 1935 sagte mir ein Zimmermann, der das Gartentor in Ordnung brachte: »Ich schwitze! In der Systemzeit gab es die schönen Schillerkragen, die den Hals frei ließen. So was hat man jetzt nicht mehr, immer nur enges Zeug und womöglich steifes.« Der Mann ahnte natürlich nicht, daß er im gleichen Satz bildlich um die verlorene Freiheit der Weimarer Epoche trauerte und bildlich eben diese Epoche mit Verachtung strafte. Daß der Schillerkragen ein Sinnbild der Freiheit bedeutet, braucht nicht erklärt zu werden, daß aber in »System« ein metaphorischer Tadel stecken soll, ist nicht ohne weiteres einzusehen.
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