»Kaffee gerne«, sagte Schmelzer.
Fett winkte ab. »Keine Umstände, Frau Utzerath, wir sind gleich wieder weg.«
»Frau Utzerath, Sie haben doch Herrn Rütters regelmäßig in Sankt Irmgardis besucht?«
»Ja, ich bin oft zu ihm gegangen. Wir haben Spaziergänge gemacht.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen in den letzten Monaten?«
»Aufgefallen, ja, vielleicht, er war manchmal etwas schlechter gelaunt. Er erzählte von einem jungen Pfleger, Johnny. Da gab es irgendwie Ärger. Herr Rütters hatte eine Art Patenschaft für den Jungen übernommen. Das hatte ihn etwas beschäftigt. Entschuldigen Sie, dass ich das nicht gleich erzählt habe, denn er war zum Schluss guter Dinge.«
»Kennen Sie Josef Kaiser und wieso gab es Ärger mit ihm?«
»Ich hab den jungen Mann vielleicht einmal auf dem Flur gesehen. Nein, nein. Ich kann Ihnen nicht sagen, um was es ging.«
»Frau Utzerath, das ist jetzt wichtig. Haben Sie Herrn Rütters mal mit einem jungen Mädchen überrascht?«
»Ach, die Geschichte. Das war doch nichts. Sie hat ihm vorgelesen.«
»Vorgelesen?«
»Ja, er liebte es, vorgelesen zu bekommen. Ich hab ihn außer der Reihe sonntags besucht, und da saß sie neben seinem Bett. Ich glaube, sie las ihm Heinrich Böll vor. Ja, Böll. Den mochte er so gerne. Böll lebte in Langenbroich, und Rütters schätzte ihn sehr. Wir diskutierten früher oft die neuen Romane und stritten uns heftig über die Verfilmung von ›Die verlorene Ehre der Katharina Blum‹.«
»Frau Utzerath, hatte Herr Rütters, sagen wir mal, Interesse an jungen Frauen?«
»Nein, Herr Kommissar, ich muss doch bitten. Was hat das mit dem Mord zu tun? Herr Rütters war sehr spendabel und versuchte, Gutes zu tun. Es gab dieses Hilfsprogramm mit dem Herrn Kaiser, und der brachte wiederum andere junge Menschen mit. Rütters versuchte, ich betone, er versuchte, einen guten Einfluss auszuüben. Aber im Innersten glaubte er wohl nicht an einen Erfolg. Vielleicht wollte er durch etwas Muße und Lektüre Nachdenklichkeit erzeugen. Er wollte im Alter immer mehr aufklären, anderen helfen oder die Öffentlichkeit wachrütteln.«
»Wir müssen einfach allen Spuren nachgehen«, sagte Fett und schaute auf die schlanke Marie Utzerath, ihre blauen Augen, die Jeans, die ihr wirklich gut standen, und ihre Jugendlichkeit, die sie wohl nie verlieren würde. Manchmal lohnt sich ein Mord, um Menschen zu treffen, die irgendwie anders sind, dachte Fett und riss sich sofort wieder zusammen. Marie Utzerath gefiel ihm. Er, der cineastische Dilettant, dachte an Marlene Dietrich, die Garbo, Romy Schneider, Catherine Deneuve. Ein Hauch von all den Diven, das hatte die Marie Utzerath.
»Vielen und herzlichen Dank. Wenn Ihnen etwas einfällt, bitte einfach anrufen. Wir freuen uns auf Sie. Und, ach, wie kamen Sie damals, 1985, an die Stelle bei Herrn Rütters?«
»Empfehlung. Jemand hatte mich empfohlen. Ich war einige Jahre im Haus eines Freundes von Rütters. Juwelier Goldbach. Auch hier in Düren. Das Geschäft existiert noch in der Wirtelstraße. Alte Familie. Sie kannten sich, David Goldbach und Alexander Rütters. Düren ist klein. Sie waren eine Generation. Und meine Empfehlungen waren bestens. Immer.«
»Ja, ja. Empfehlung ist immer gut. Empfehlung, Frau Utzerath«, sagte lächelnd Kommissar Fett.
Sie verließen Marie Utzerath, und Fett war gespannt auf Schmelzers Meinung. Der war beim ersten Besuch nicht dabei.
»Nun, lieber Herr Schmelzer, was sagen Sie zu Frau Utzerath?«
»Eine interessante Person. Ich werde nicht richtig schlau aus ihr. Sie haben von ihr berichtet. Eigentlich wirkt sie eher wie die Witwe eines Unternehmers und nicht wie die Hausdame eines Papierfabrikanten. Ob sie uns bei dem Mordfall helfen kann, da hab ich so meine Zweifel. Wer hier lange alleine wohnt, der bastelt sich so seine Geschichte und Geschichten. Vielleicht möchte sie wichtiger oder geheimnisvoller erscheinen, als sie tatsächlich ist. Wir sollten sie mal im Büro durch den Computer laufen lassen. Vielleicht erfahren wir dann mehr als durch die aufwendigen Fahrten nach Düren.«
»Danke, Schmelzer. Eine gute Idee. Das machen wir gleich.«
Er ließ sie durch den Computer laufen und siehe da: Marie Utzerath war 1941 in die Pflegefamilie Utzerath gegeben und von ihr adoptiert worden. Als Mutter war eine belgische Zwangsarbeiterin eingetragen namens Silvie van der Felde, die im Juni 1940 in der Papierfabrik Rütters zum Arbeitseinsatz gezwungen wurde. Vater unbekannt. Warum hatte sie das nicht gesagt? Da gab es mehr Verbindungen als zunächst gedacht. 1941 geboren. Adoptiveltern. Grundschule, Realschule, Berufsschule, Abitur im Abendgymnasium. Hauswirtschafterin in verschiedenen Familien, so auch bei Goldbach von 1966 bis 1976, dann andere Familien, Unternehmer, Anwälte und im Alter von 44 wird sie im Jahre 1985 die Hausdame von Alexander Rütters. Bis der im Jahr 2000 ins Seniorenstift Sankt Irmgardis zieht. 1960 Geburt des Sohnes Robert. Vater unbekannt. Der Junge spielt im Sommer 1965 an der Rur mit Freunden. Da explodiert ein Blindgänger. Alle fünf Kinder sind auf der Stelle tot. Eine englische Fliegerbombe vom Angriff auf Düren, so die Vermutung.
Ob Rütters Tochter mehr über Marie Utzerath wusste? Fett zog ein paar Linien. Rurschatten. Das Wort stand in der Mitte. Daneben die Namen. Richtig weiter war er immer noch nicht. Schatten. Viele Schatten.
Schmelzer überprüfte das Alibi von Josef Kaiser und der Freundin, hörte nach bei den Nachbarn, checkte die Handydaten und kam zu dem Ergebnis, das er erwartet hatte. Josef Kaiser war nicht auf der Annakirmes gewesen, Josef Kaiser war ein armer Hund. Pflegefamilie, Schulen abgebrochen, Sankt Irmgardis war eine Chance, und auch hier wurde er ausgebeutet. Ja, er hatte Alexander Rütters immer wieder Mädchen vorbeigebracht, die ihm vorlesen sollten. Er wollte wohl so gerne den Klang einer jungen Stimme hören. Schmelzer suchte mehrere von ihnen auf und alle bestätigten, dass der »Alte«, wie sie ihn nannten, nur zuhören wollte. Dafür zahlte er den Mädchen 100 Euro, und Johnny Kaiser kassierte die Hälfte.
Ein Hinweis an die Heimaufsicht brachte den lieben Fred ins Schwitzen. Fred Strack-Zimmermann kassierte von den Jugendämtern und den Schutzbefohlenen, stellte den Paten überhöhte Kosten in Rechnung und fuhr nach Mallorca in seine Kleinbürgerfinca. Eine einvernehmliche Trennung war zu erwarten, vielleicht sogar eine Abfindung, und Stellvertreterin Helene Schulz-Weißenbach bekam unvermittelt einen Karriereschub. Sie half übrigens bei der Aufklärung mit großer und schlecht gespielter Naivität, nur, um den Gästen im Domizil Aufregung zu ersparen. Johnny Kaiser wurde also entlastet und entlassen, eine neue Maßnahme, so sein Sozialamtsbetreuer, sei in Sicht. Schmelzer wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche. Er schloss den Aktendeckel Johnny Kaiser.
»Es geht sich um …«
»Nein, Schmelzer, es geht, es geht oder sagen Sie, von mir aus, meiner Meinung nach, nicht sich um, nicht sich um, dieser verdammte rheinische Reflexiv, immer dreht sich jemand um sich, trinkt sich jemand was, isst sich jemand selbst auf. Bitte, nicht es geht sich um. Sonst schalte ich ab.«
Fett war gereizt. Da liebte er diese Formulierungen, diese Wolkenschiebereien, diese Redewendungen, dieses Dumpfdeutsch besonders; er konnte nicht mehr. Sodbrennen, Kopfschmerzen, keine tröstende Hand. Nur diese lockere Verbindung.
»Schmelzer, noch mal von vorne.«
»Also, Rütters hat eine Haushälterin, deren Mutter vermutlich ab Mai 1940 in der Fabrik des Vaters gearbeitet hat. Merkwürdig. Rütters lebt in einem Luxusstift, ist Pate von einem Junkie, wird vom Geschäftsführer ausgenommen und vielleicht von dem Junkie erpresst. Wegen der Girls. Ich finde, der Loser Johnny, den sollten wir noch mal rannehmen. Auch wenn ich ihm den Mord nicht zutraue. Wenn der den Alten erpresst und mit Kumpels gemeinsame Sache gemacht hat, dann …«
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