Hannes Giessler Furlan - Hauptschuleinblicke

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Hauptschule, dreizehn Monate, Vertretung für einen erkrankten Lehrer, in einer abgewirtschafteten westdeutschen 100.000-Einwohner-Stadt. Nirgends hat sich Hannes Giessler Furlan so befremdet gefühlt wie an dieser Schule, dreißig Kilometer entfernt von der eigenen Haustür. Im Einzelnen war ihm nichts neu, in der Ballung aber hat es ihn betrübt: der raue Umgangston, die Bildungsferne, die Fixierung aufs Smartphone, das patriarchale Gehabe, die Betonung der Nationalität bzw. Ethnie, schließlich das Prestige der Religion, die Selbstbesessenheit des Islams und der verbreitete Glaube an die Hölle.
Giessler Furlans Bericht ist nicht nur eine Momentaufnahme; er lässt vielmehr erahnen, wohin die Reise an deutschen Hauptschulen geht, und er zeigt exemplarisch, wie Chancenlosigkeit und Verhärtung sich in den Hauptschulen wechselseitig verstärken.

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Hannes Giessler Furlan

Hauptschuleinblicke

Ein Erfahrungsbericht

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© 2020 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

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Covergestaltung: Stefan Hilden ⋅ München⋅ www.hildendesign.de

ISBN 978-3-86674-853-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Vorwort

von Christoph Türcke

Hannes Giessler Furlan hatte mit einer Arbeit über »Idee und Realität kommunistischer Ökonomie« in Philosophie promoviert, ehe er in einem westdeutschen Ballungsgebiet an einer Hauptschule die Vertretung für einen erkrankten Lehrer übernahm und dort haarsträubende Erfahrungen mit der »Idee und Realität aktueller Pädagogik« machte. Wie können es hier einige Kollegen jahrzehntelang aushalten?, fragte er sich bald. Er war »nur« für dreizehn Monate dort und hätte diese Zeit entschieden schlechter durchgestanden ohne die Abfassung des Berichts über sie, den er hier vorlegt und der ihm ermöglichte, Abstand zu seinen täglichen Schulerlebnissen zu gewinnen, sie ein wenig zu sortieren und die Verhältnisse, denen er da ausgesetzt war, ohne sie ändern zu können, zumindest etwas klarer zu sehen.

Es ist ja nur ein vereinzelter subjektiver Bericht aus einer von vielen Hauptschulen, nicht verallgemeinerungsfähig und daher wissenschaftlich wertlos: So mögen jene Vertreter empirischer Bildungsforschung urteilen, die den Schulalltag auf das reduzieren, was sich davon in standardisierten Fragebögen und Messungen erfassen lässt, die das Gerippe ihrer statistischen Daten mit der authentischen Schulrealität verwechseln – und das Erfahrungskontinuum von Lehrern, die Tag für Tag an der Schulfront stehen, als lediglich »anekdotisch« und »nicht evidenzbasiert« abtun. Schulverwaltungen und Kultusministerien schauen vornehmlich auf diese Daten, geben ihre Erhebung oft eigens in Auftrag und setzen das Erhobene dann in Anweisungen und Erlasse für Schulen um. Das geschieht weitgehend über die Köpfe der Lehrer hinweg. Ihre Stimme findet im Zusammenspiel von Bildungsforschung und Verwaltung wenig Gehör. Dabei können Lehrer, die ein Gespür und Worte dafür haben, was an dem, was sie täglich erleben, nicht bloß zufällig, sondern exemplarisch ist, weitaus tiefer in die Schulrealität eindringen als Datensätze »evidenzbasierter« Forschung.

Einen solchen Zugang eröffnet der vorliegende Bericht. Er ist nicht evidenzbasiert, aber erfahrungsgesättigt – nicht bloß eine direkte Wiedergabe von Erlebtem, sondern bereits ein Herausdestillieren von Signifikantem daran. Nicht, dass er das Erlebte auf einen gemeinsamen Nenner brächte. Dazu ist es viel zu turbulent und zudringlich, dazu hat es den Autor viel zu sehr angegriffen. Aber er gibt nicht nur eine Momentaufnahme; er lässt erahnen, wohin die Reise an deutschen Hauptschulen geht.

Es mag an der Schule, an der Giessler Furlan tätig war (von Unterrichten kann kaum die Rede sein), krasser zugehen als an anderen. Aber das macht sie nicht untypisch. Es lässt vielmehr deutlicher hervortreten, wohin Hauptschulen generell tendieren: zu Sammelbecken derer, die weitgehend chancenlos sind, in ein halbwegs auskömmliches oder gar selbstbestimmtes Arbeits- und Familienleben hineinzuwachsen, weil es ihnen an elementarem Sprach-, Schreib-, Rechen- und Planungsvermögen oder an den erforderlichen sozialen Kontakten dafür fehlt. Nicht alle Migranten sind chancenlos. Diejenigen, die es schaffen, sich durchzubeißen, sind im Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsbetrieb als Beispiele gelingender Interkulturalität sogar besonders gefragt. Aber die Mehrheit der Chancenlosen hat einen Migrationshintergrund und gehört patriarchalen muslimischen Familienverbänden an, die per Satellit die Medienkulisse und Mentalität ihrer alten Heimat mitgenommen haben. Ihr Lebensunterhalt setzt sich im Wesentlichen aus einer Mischung von formeller und informeller Arbeit der Männer sowie Sozialhilfe zusammen. Die Frauen verrichten überwiegend Haushaltstätigkeiten.

Die deutsche Schule, die Mädchen wie Jungen gleichermaßen auf einen flexibilisierten Arbeitsmarkt vorbereitet, indem sie sie in zunehmend deregulierten Klassenverbänden in den Erwerb von Kompetenzen einübt, die auf diesem Markt gefragt sein könnten: sie wird in diesen Milieus nicht als Raum der Offenheit erlebt, wo man sich von autoritären Clanstrukturen, beengenden religiösen Vorstellungen lösen und in ein selbstbestimmtes Leben hineinwachsen könnte, sondern als Raum der Bedrohung, wo sich alles auflöst, was in der deregulierten Welt noch Halt und Orientierung gibt. Gutwillige Lehrer, die sich unter Bildung einen Emanzipationsprozess zu einer eigenverantwortlichen Existenz auf demokratischer Grundlage vorstellen, werden in diesem Raum von den Schülern nicht als Bundesgenossen wahrgenommen, sondern als die schwächsten Glieder des Bedrohungsszenarios. Sie stehen auf verlorenem Posten.

Giessler Furlans Bericht zeigt exemplarisch, wie Chancenlosigkeit und Verhärtung sich in den Hauptschulen wechselseitig verstärken. Nicht wenige der Halbwüchsigen, die er schildert, machen den Eindruck, als hätten sie ausgerechnet in der Pubertät, wo sich gewöhnlich ein eigener Gestaltungsraum allererst öffnet, mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie betonieren sich in starren Vorstellungen von Mann, Frau und Familienehre, von Gehorsam und Strafe, Gott und Hölle ein, an denen jeder Einwand, jede Einladung zu gemeinsamem Nachdenken oder gar zur Horizonterweiterung abprallt. Daher auch die Hassliebe, mit der sie sich an ihr Smartphone klammern, über das selbst von den Ärmsten die meisten verfügen. Es ist ein Selbstbehauptungsmittel im Schul- und Öffentlichkeitsraum, ein je eigenes Tor zur Welt. Doch das allermeiste der unermesslichen Möglichkeiten, die es ihnen eröffnet, bleibt für sie nur Gaukelwerk – ebenso begehrt wie unerreichbar. Wer mit seinem Leben abgeschlossen hat, ist um so eher bereit, es für Ungeheuerliches aufzuopfern und sich an denen zu rächen, die für diesen vorzeitigen Abschluss verantwortlich zu sein scheinen. Das Radikalisierungspotenzial einer Hauptschullaufbahn ist nicht zu unterschätzen.

Die islamische Variante der Verhärtung ist derzeit die markanteste in deutschen Hauptschulen, aber nicht die einzige. Auch die Biodeutschen unter den Chancenlosen greifen häufig nach allem, was Halt und Orientierung verheißt: autoritären Personen, starren religiösen oder nationalistischen Glaubensüberzeugungen – und Smartphones. Dabei harmonieren deutschnationale und islamistische Einstellungen gelegentlich gar nicht schlecht. Gemeinsam ist ihnen die fundamentalistische Abwehrreaktion gegen den bedrohlichen deregulierten Schulalltag, oftmals über alle kulturellen Differenzen hinweg, wie es ja auch unter erwachsenen deutschen Rechtsextremen nicht wenige Bewunderer des Islamismus gibt, die lediglich beanstanden, dass dieser auch »zu Deutschland gehören« will, statt »daheim« in Arabien zu bleiben.

Die »neue Lernkultur« des deutschen Schulwesens gibt vor, den Schülern weitgehend selbst zu überlassen, wie sie ihr individuelles Set von Kompetenzen erwerben, das sie realitätstüchtig für den High-Tech-Alltag macht. Lehrer sollen dabei nur noch Materialbeschaffer und Lernbegleiter sein. Wie sehr dieses Konzept, das sich mit Kompetenz- und Selbstentfaltungsterminologie üppig schmückt, darauf angelegt ist, schwächere Schüler abzuhängen, zeigt sich am krassesten im Hauptschulalltag. Hier werden die Schüler sich selbst überlassen, die deregulierten Klassenräume zu Aufbewahrungs- und Konfliktaustragungsorten und die Lehrer zu Aufsehern. Schlichtung und Moderation wird zu ihrer Hauptaufgabe, Unterrichtsgestaltung zur Marginalie. Der soziale Sprengstoff, der sich da in den Hauptschulen ansammelt, fällt durch die Raster der empirischen Bildungsforschung. In Berichten wie dem von Giessler Furlan wird er erahnbar. Vorausschauende Bildungspolitik müsste sich an ihnen orientieren.

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