Ab da war er der König des Kiez. Und so war es bis heute geblieben, auch wenn der Job rauer wurde. Aber Big Bongo war clever. Er hatte als einer der Ersten gespürt, dass die Zeit der klassischen Rotlichtgrößen zu Ende ging. Nach und nach verschwanden Legenden wie „Der schöne Dieter“, „Neger-Nobby“ oder „Knockout-Charlie“ von der Bildfläche und Albaner und Russen übernahmen die Geschäfte. Brutale und skrupellose Banden und Großfamilien, die mit alter Kiez-Romantik nichts am Hut hatten. Aber skrupellos war Big Bongo auch und er hattefrühzeitig Allianzen mit den Hells Angels und anderen einflussreichen Gangs geschlossen, um sein Revier zu verteidigen. Dass ihm dies bis heute gelungen war, erfüllte ihn mit Stolz. Er hatte sich eine kleine Entourage von Vertrauten geschaffen, die ihm treu ergeben war und auf die er sich blind verlassen konnte. Und dann war da noch Mariella Romano, die sich vor zehn Jahren bei ihm vorgestellt hatte. Big Bongo, der alle seine Mädchen persönlich aussuchte, hatte gleich erkannt, dass Mariella nicht ins Bordell gehörte, auch wenn sie aufgrund ihrer italienischen Wurzeln mit ihrem Exotenfaktor gut fürs Geschäft gewesen wäre. Doch noch bevor er sie wieder wegschicken konnte, hatte er sich schon heillos in sie verliebt. Sie war so anders als jede Frau, die er vorher hatte. Und er hatte viele gehabt, sich aber nicht in eine davon verliebt. Mariella dagegen strahlte unter der Schminke, die sie viel zu dick aufgetragen hatte. Ihrer eigentümlichen Würde konnte er sich nicht entziehen. Ausgerechnet er, der Abgebrühteste von allen, fing Feuer für eine Frau von gerade mal 25 Jahren, die ihm mit ihrer gefährlichen Mischung aus Unschuld und Unnahbarkeit gegenübersaß. Vielleicht waren es zu Beginn auch nur ihr schöner Körper und ihre leichten Bewegungen, doch schon nach wenigen Wochen wusste er, dass sie die Frau seines Lebens war. Mit so etwas hatte er gar nicht mehr gerechnet. Schon gar nicht in seiner Branche und erst recht nicht mit seinem kaputten Lebenslauf.
Big Bongo beugte sich hinüber zum Nachttisch und fischte sich eine Zigarette aus der Packung. Durch die Bewegung erwachte Mariella, die mit dem Kopf auf seiner von eindrucksvollen Narben übersäten Brust gelegen hatte. „Was ist?“, fragte sie im Halbschlaf.
„Alles gut“, antwortete Big Bongo, „schlaf weiter.“
Es war noch sehr früh am Morgen. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Raum. Heute stand ihm ein anstrengender Tag bevor. Er wollte sich persönlich um den Portier eines seiner Etablissements kümmern, den er im Verdacht hatte, krumme Geschäfte hinter seinem Rücken abzuwickeln. Bei so was kannte Big Bongo keine Gnade. Er hatte schon einige, die Ähnliches versucht hatten, spurlos verschwinden lassen. Er kommentierte das im kleinen Kreis gerne damit, dass er für einen „Interessenausgleich“ gesorgt hatte. Big Bongo musste grinsen, als er darüber nachdachte. Er hatte sich auch schon was Schönes überlegt für den bald ehemaligen Portier seines „Wonderland Clubs“.
Ein lautes Geräusch aus dem Flur ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Mariellas Kopf wurde zur Seite geschleudert und sie erwachte mit einem Schrei. Big Bongo riss die Nachttischschublade auf, aber noch bevor er seine Beretta herausziehen konnte, flog die Schlafzimmertür auf und vier schwer bewaffnete und vermummte SEK-Beamte standen mit auf ihn gerichteten Maschinenpistolen vor ihm. „Hände hoch. Umdrehen auf den Bauch!“, brüllte jemand.
Während ein Beamter sich auf seinen Rücken setzte, um ihm Handschellen anzulegen, trat ein groß gewachsener Mann mit Helm und hochgeklapptem Visier ins Zimmer. Seinem Auftreten nach tippte Big Bongo darauf, dass es sich um den Einsatzleiter handeln musste. Jetzt war er aber mal gespannt. Was sollten sie schon gegen ihn in der Hand haben? Big Bongo gehörte nicht umsonst zu den wenigen Milieugrößen, die noch nie im Knast gesessen hatten. Selbst für seine Beretta besaß er einen Waffenschein. Ganz abgesehen von seinen Geschäften. Die Verbindungen waren so geschickt gesponnen, dass ihm niemand etwas nachweisen konnte, und von der Handvoll Menschen, die Bescheid wussten, wie es läuft, würde ihn keiner verraten. Jedenfalls keiner, dem sein Leben noch etwas wert war. Aber irgendeiner hatte gesungen, anders war dieser Einsatz nicht zu erklären. Big Bongo schwor sich: Sollte er einfahren, würde der Verräter dafür mit einem qualvollen Tod büßen. Der SEK-Mann riss ihn hoch. Direkt vor dem Einsatzleiter kam er auf die Beine. Ein Lächeln umspielte dessen Mund, während er in sein Kopfmikrofon sprach: „Aktion beendet. Zielobjekt wurde festgenommen.“ Big Bongo schnaubte wütend und drehte sich zu seiner Mariella um, die neben dem Bett stand und ihn traurig ansah. Tränen liefen über ihr Gesicht, aber ihre Stimme klang ungewöhnlich gefasst, als sie sagte: „Es tut mir leid.“
Im ersten Moment wusste Big Bongo nicht, was sie damit meinte. Aber dann verstand er und der Satz explodierte in seinem Kopf wie eine Handgranate.
Freitag, 5. Juni, 9.10 Uhr
Hastenraths Will stiefelte schwer atmend die Treppenstufen hoch. Seine Knochen knackten und auf seiner Stirn bildete sich kalter Schweiß. Er hob den Kopf. Der Flur des ersten Stocks schien ihm so weit entfernt wie die Spitze des Mount Everests. Unfassbar! Damals, vor über 30 Jahren, als er sein Elternhaus zusammen mit seiner frisch angetrauten Frau Marlene übernommen hatte, war er diese Treppe stets leichtfüßig und zwei Stufen auf einmal nehmend hochgejagt. Vor allem, wenn seine Frau zuvor im Wohnzimmer eindeutige Signale ausgesendet hatte, bevor sie sich mit einem geheimnisvollen Lächeln nach oben zurückgezogen hatte. Doch diese Art von Signalen war ebenso versiegt wie Wills Körperkraft, die von jahrzehntelanger harter Arbeit in der Landwirtschaft aufgezehrt war. Der Spätsommer des Lebens verlangte seinen Tribut. Die Leichtigkeit der jungen, wilden Jahre war längst dahin. Zwar hatte Will es schon am Tag der Hochzeit trotz verzweifelter Versuche nicht geschafft, Marlene in den ersten Stock zu tragen, aber das hatte nicht an ihm gelegen, sondern daran, dass seine Frau schon damals kein Leichtgewicht war. Heute würde ihm ohnehin jeder verantwortungsvolle Orthopäde von solchen Aktionen abraten.
Keuchend erreichte Will den oberen Treppenabsatz. Als er in das Zimmer sah, in dem Richard Borowka gerade einen neuen Bohrer in die Bohrmaschine einspannte, fragte er sich, warum er sich diesen Stress auf seine alten Tage überhaupt noch antat. Den ersten Stock hatte er in den letzten Wochen mithilfe von Freunden und Bekannten zu Pensionszimmern umgebaut. Mit Ausnahme des eigenen Schlafzimmers waren nun alle Räume in Gästezimmer verwandelt worden. Tochter Sabine hatte gleich zwei Kinderzimmer mit Verbindungstür besessen, es gab das alte Bügelzimmer und auch Wills Großeltern hatten bis zu ihrem Tod im großzügigen Obergeschoss gelebt. Wenn es in diesem Bauernhof an einem nicht mangelte, dann an Wohnraum. Erst recht, wenn man sich, wie Will, um lästige Formalitäten wie Baugenehmigungen wenig scherte.
Der Umwidmung der Räumlichkeiten in Hotelzimmer waren intensive Gespräche vorausgegangen, in denen Marlene Hastenrath ihren Mann davon überzeugt hatte, dass die Landwirtschaft in der Form, in der sie sie betrieben, auf lange Sicht nicht mehr zum Leben reichen würde. Gegen die industrielle Landwirtschaft war als kleiner bäuerlicher Familienbetrieb mit ein bisschen Viehwirtschaft und einem kleinen Kartoffel-ab-Hof-Verkauf einfach nicht anzukommen. Und so waren, dank intensiver Nachbarschaftshilfe, innerhalb kürzester Zeit vier rustikale Gästezimmer entstanden, mit allem, was nötig war, um eine Anerkennung als Hotel Garni zu erhalten. Um den Papierkram hatte Marlene sich gekümmert. Sie würde später auch die Leitung der Frühstückspension übernehmen, während Will für die Bespaßung der jüngeren Gäste eingeplant war. Seiner Frau schwebten dabei zwar Dinge wie Schweinefüttern oder Stallausmisten vor, aber Will hatte noch weit mehr auf Lager. Seinen Vorschlag, als besonderen Freizeitspaß ein Bananenboot hinter seinen Hanomag zu hängen und mit den Kindern darauf über die Felder zu rasen, hatte seine Frau zwar aus Sicherheitsgründen verworfen, aber er hatte noch viele andere gute Ideen. Die Kleinen könnten ihm zum Beispiel helfen, Kälbchen aus der Kuh zu ziehen, oder sie könnten ihm bei der Handbesamung assistieren oder heimlich die Spritzen mit den Wachstumshormonen aufziehen. Es gab so viel zu entdecken auf einem Bauernhof. Will hatte sogar darüber nachgedacht, als besondere Attraktion wieder Hühner anzuschaffen. Nicht nur das Eiersuchen hatte seinen Enkelkindern immer große Freude bereitet, sondern auch das Schlachten der Tiere. Wie oft war ein geköpftes Huhn noch sekundenlang herumgelaufen? Manche waren sogar noch bis aufs Dach geflattert. Für seine beiden Enkelkinder, Kevin-Marcel und Justin-Dustin, die früher fast täglich auf dem Hof gespielt hatten, war das immer wieder ein Heidenspaß gewesen.
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