Lejla Kalamujic - Nennt mich Esteban

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Dieser Erzählband liest sich wie ein fragmentarischer Roman. Seine Szenen umkreisen den Schmerz der Protagonistin über den zu frühen Tod der Mutter. Sie wächst mit den vier Großeltern – allesamt eindrückliche Charaktere – und einem trinkenden Vater auf, bis die Belagerung Sarajevos die Familie zerteilt. Die Mutter taucht in Familienlegenden und Erzählungen der Erwachsenen auf, in kindlichen Phantasien, als Lied aus dem Radio oder Geruch in der Erinnerung an die zahlreichen Friedhofsbesuche mit den Großeltern – aber auch als lässige Gesprächspartnerin in Levi‘s Jeans, die mit der jugendlichen Lejla rauchend im Park sitzt. Dabei berührt die Autorin so viele tabuisierte, schwere Themen wie den Verlust naher Menschen, Ängste und Depression, Liebe und Verbundenheit zwischen zwei Frauen sowie die Suche nach Identität, wenn das eigene Land zerfällt und die Gegenwart absurd ist, wie der Zug nach Belgrad, der an drei Landesgrenzen Lok und Schaffner wechseln muss. Es sind Geschichten, die tief berühren und uns am Ende bewegt zurücklassen.

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Nennt mich Esteban - изображение 1

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria (im Auftrag des Bundeskanzleramts der Republik Österreich), das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK, das Ministerium für Kultur der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium für Kultur der Republik Albanien, das Ministerium für Kultur und Information der Republik Serbien, das Ministerium für Kultur und nationale Identität Rumäniens, das Ministerium für Kultur von Montenegro, das Ministerium für Kultur der Republik Mazedonien, die Leipziger Buchmesse und die S. Fischer Stiftung angehören.

Marie-Luise Alpermann dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung durch ein Bode-Stipendium.

Lejla Kalamujić - Nennt mich Esteban

1. Auflage 2020

© eta Verlag

Alle Rechte vorbehalten

eta Verlag | Petya Lund

Schönhauser Allee 26

10435 Berlin

www.eta-verlag.de

kontakt@eta-verlag.de

Aus dem Bosnischen übersetzt von

Marie-Luise Alpermann

Lektorat: Anne Grunwald

Titel-Illustration: Yuliia Smorochynska / Shutterstock

Originaltitel: Zovite me Esteban

erschienen bei: Dobra knijga, Sarajevo 2015

ISBN 978-3-9820030-7-8

Nennt mich Esteban - изображение 2

Für Naida

Was bedeutet mir die Schreibmaschine?

Der Morgen ist verregnet, ich habe überhaupt keine Lust rauszugehen. Ich sitze auf dem Sofa und blättere in der Zeitung. Kiki liegt zusammengerollt neben meinen Beinen und schnurrt. Auf Seite 28 lese ich die Schlagzeile:

LETZTE SCHREIBMASCHINENFABRIK DER WELT SCHLIESST

Es ist Dienstag, der 26. April 2011. Ich lese weiter:

Die Ära der Schreibmaschine, wesentliche Büroausstattung des 20. Jahrhunderts, neigt sich ihrem Ende zu. In Mumbai, Indien, hat die letzte Schreibmaschinenfabrik ihre Arbeit eingestellt.

Meine Mutter war Stenotypistin. In einer Zeit, über die man sagt, sie sei nichts mehr wert. Ein kurzes Leben, das nur 22 Jahre dauerte. Sie starb an einem weit zurückliegenden Freitag, am 20. August 1982. Da war ich gerade zwei Jahre alt.

In meinem Leben gibt es keine Erinnerung an die Mutter. Sie ist nur eine Geschichte, die heilige Geschichte von der Schöpfung, vom intimen Urbeginn. Meine Altersgenossen bekamen vor dem Einschlafen Märchen zu hören, ich dagegen habe den Geschichten über sie gelauscht. Über ihren Tod sprach man leise. Wenn jedoch eine Anekdote aus ihrem Leben oder einer ihrer Streiche nacherzählt wurde, redeten alle durcheinander. Dann erregte die verschwundene Zeit die Stimmbänder. Sie rollte zwischen Zunge und Gaumen hin und her, verwandelte sich an der Luft in Wörter, dann in Sätze. Die Geschichten begleiteten sie auf ihre Reisen. Es machte nichts, dass manchmal eine Geschichte die andere widerlegte und Ungereimtheiten auftauchten: Das Heilige rührt man nicht an, man glaubt daran.

Es war eine Zeit der Arbeitseinsätze, von denen man mit Nierenentzündung zurückkam. Es war eine Welt, in der Stenotypisten-Wettbewerbe abgehalten und Preise für den zweiten Platz nach Hause gebracht wurden. Für den zweiten Platz deshalb, weil irgendein Mädchen weinte, nachdem meine Mutter die Schnellere und Bessere gewesen war. Als Trost gab die Jury ihm den Pokal, und Mama schickten sie mit einer Urkunde für den zweiten Platz heim. Neben den Urkunden sind von ihr ein Bademantel, der Ehering, das Parteibuch und eine Schreibmaschine geblieben.

In der Wohnung meiner Großeltern war die Schreibmaschine eine Reliquie. Sie wurde als Erinnerung sorgfältig im Schrank des Schlafzimmers gehütet. Nur mein hartnäckiges Betteln konnte sie manchmal auf den Tisch locken. Baka und Deda setzten sich dann neben mich und ließen mich tippen. Klappernd hallte es von den Wänden wider. Die Tinte presste Buchstabenformen aufs weiße Papier. Am Anfang waren sie nur zufällig gewählt, später wurden daraus Wörter, Sätze … Bis zum Ende der Zeile, an dem ich die zylindrische Walze mit dem Hebel umlegte und zurück an den Anfang schob. Ein, zwei Stunden konnte ich so vor mich hin tippen. Erst wenn mir die kleinen Finger wehtaten, räumten wir die Maschine in den Plastikkoffer, zurück in die tiefe Stille des verfrühten Todes.

Ob ich damals anfing, das Schreiben zu lieben? Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall mochte ich es, die kleinen Ereignisse und Missgeschicke ihres Lebens abzutippen. Wie sie die Fensterscheibe im Wohnzimmer einschlägt und dann so tut, als hätte sie damit nichts zu tun. Oder, noch besser, wie sie eine ganze Schweinskeule aufisst, und dann staunend auf den leeren Teller in Omas Händen starrt und hartnäckig wiederholt: „Wo ist die Keule hin?“

Ich weiß nicht, warum mich die Nachricht aus Indien so verstört hat. Weiß auch nicht, warum ich auf die Leiter geklettert bin und den verstaubten kleinen Koffer vom Schrank geholt habe. Ich hatte ihn wer weiß wie lange nicht mehr angefasst. Bald ist es dreißig Jahre her, dass Mama gestorben ist. Ich denke daran, während ich ein leeres Blatt Papier in die Schreibmaschine einziehe und tippe:

Was bedeutet mir die Schreibmaschine?

Vier Jahreszeiten

Aus den Blicken sprechen Stimmen. Junge und alte. Sanfte, schmeichelnde. Ich könnte sie auf meinem Körper verstreichen, wie Butter auf einem warmen Hörnchen. Mit heißen Wangen würde ich ihre Fragen von den offenen Handflächen ablecken:

Wer bist du? Zu wem gehörst du?

Ich, ihr Sonnenschein (so haben sie mich oft genannt), gehörte zum Sommer. Im Sommer wurde ich geboren. Im Sommer starb meine Mutter. Im Sommer voll Leben und Tod waren wir alle zusammen: meine Großeltern Baka Brana und Deda Boro, die anderen Großeltern Nana Safeta und Dedo Nedžad, und ich. Papa war da und doch nicht da. In einem Zuhause, an zwei Orten, in zwei verschiedenen Stadtteilen aßen wir Pita von Nana Safeta und Sarma von Baka Brana, Dedo und Deda tranken Bier und Schnaps. Unsere Untermieter waren Allah und Tito.

Ich bin ganz aus Sommer! Der Sommer, das bin ich.

Die Stimmen lachten. Ihre dicken Finger kniffen mich in die Wangen, bis sie kupferrot leuchteten. Die Untermieter tauchten immer mal wieder auf. Der eine in Safetas und Nedžads Gebeten, der andere in Branas und Boros Partisanenliedern.

Und dann begann das Schießen …

Mit dem halben Zuhause zogen Baka Brana, Deda Boro und ich nach Šid, zu Omas Schwester. Das war mein erster Verrat. Ich ging mit den einen Großeltern fort und ließ die anderen zurück. In das mitgenommene halbe Zuhause, das sich gar nicht richtig an dem neuen Ort niederlassen wollte, zog ein neuer Untermieter ein: Krieg. So hieß er. Er tauchte ständig auf: ob wir gerade aßen oder badeten, ob wir gerade Verstopfung oder Durchfall hatten. Wellen hatten wir auch. Allerdings nicht die vom Meer, die Fie, Regen und Schnee. Sreten schaltete das Radio ein, bot uns selbstgemachten Holundersirup und drei Hocker an. Wir setzten uns hin und ließen uns – die Stimmen, nicht die Körper – von den Wellen tragen. An guten Tagen erwischten wir die Stimmen von Nana Safeta und Dedo Nedžad: Sie sagten, sie seiensche, Muscheln und Boote treiben lassen. Unsere Wellen wohnten im Haus eines gewissen Sreten. Das war ein guter älterer Mann mit einem großen Radio. Zu ihm gingen wir jeden Samstag, bei Sonn am Leben und diese Scheiße sei wohl hoffentlich bald vorbei. Mit der Zeit hasste ich dieses halbe Zuhause und dessen Untermieter. Ich stellte mir vor, wie ich ihm die Haare ausreiße, die Augen auskratze und Salz in die Nasenlöcher schütte. Aber ich traute mich nicht. Er war groß und stark.

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