Der Betrunkene auf der Treppe rannte inzwischen den Aufgang hinunter, um sich ebenfalls auf den Professor zu stürzen, und nahm dafür immer drei Stufen gleichzeitig. Professor Meinert eilte ihm hastig entgegen, und gerade als der Bärtige den Fuß der Treppe erreicht hatte, stieß er ihm das untere Ende seines Spazierstockes mit voller Kraft in den Solarplexus. Der Oberkörper des Landstreichers kam augenblicklich aus vollem Lauf heraus quasi in der Luft zum Stillstand und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz zu einer Grimasse. Der Rest seines Körpers blieb noch im Vorwärtsdrang, sodass er, als sich seine Beine weiter nach vorn bewegten, rückwärts nach hinten kippte, mit dem Kopf auf die untersten Steinstufen aufschlug und reglos liegen blieb.
Dem Professor blieb keine Gelegenheit festzustellen, ob der Angreifer endgültig außer Gefecht gesetzt war. Während Torben versuchte, mit gezielten Schimpftiraden, Tritten und Faustschlägen, die ihm Atem und Kraft raubten, dafür zu sorgen, dass der Aussätzige im Müllhaufen liegen blieb, denn festhalten wollte er ihn immer noch nicht, und Gertrud mit ihrem Bellen den Kampf ihres Herrchens begleitete, wandte sich der Professor wieder dem glatzköpfigen ersten Angreifer zu.
Der hatte sich von dem Schlag ins Gesicht zwar noch nicht ganz erholt, aber mit blutender Nase und irrsinniger Wut in den Augen wollte er sich erneut auf den Professor stürzen. Dieser hatte jedoch, als er erkannte, dass er mit dem Stock bei dem tobenden Berserker nichts mehr auszurichten vermochte, blitzschnell den Griff an seinem Spazierkopf mit einer leichten Drehung des Handgelenks gelöst, sodass eine etwa siebzig Zentimeter lange, dreikantige Klinge zum Vorschein kam, die er jetzt in die nach dem Messer greifende Hand des Glatzkopfs fahren ließ. Der markerschütternde Schrei, den der Kerl ausstieß, als sein Handrücken durchbohrt wurde, sorgte dafür, dass auch der Aussätzige beschloss, seine Gegenwehr fürs Erste einzustellen, nun selbst die Arme in die Luft streckte, sich fluchend in den Müll zurückfallen ließ und es sich dort widerwillig bequem machte.
Der Professor zog mit einem kurzen Ruck den kalten Stahl aus der Hand seines Gegners, wischte mit einem Taschentuch, das er danach wegwarf, die Klinge ab und ließ den Stockdegen wieder in seinen Schaft verschwinden. Er wandte sich von dem Verletzten ab, der mit seiner gesunden Hand auf die blutende Fleischwunde drückte und wegen der gebrochenen Nase beim Atmen schwer schnaufte. Der Professor ging zu dem noch immer vor Aufregung zitternden und unter Adrenalin stehenden Torben, nickte ihm anerkennend zu und sagte zu dem Pickligen: „Schnapp dir deine beiden Kumpane und verschwindet von hier. Lasst euch nicht einfallen, noch einmal aufzutauchen!“
Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen. Er kroch zuerst zu dem Glatzköpfigen und half ihm beim Aufstehen. Ohne ein Wort zu verlieren, versuchten sie dann zu zweit, den bewusstlosen Bärtigen wachzurütteln, der noch immer auf den Treppenstufen lag. Gott sei Dank gelang es ihnen, und Torben atmete innerlich auf. Sich gegenseitig stützend, verließen die drei Galgenvögel gleich darauf den Korridor in Richtung Nordflügel. Offenkundig gab es noch andere Möglichkeiten, ins oder aus dem Schloss zu gelangen, als den Weg, den Torben und der Professor genommen hatten. Professor Meinert ließ es sich nicht nehmen, den Landstreichern hinterherzurufen, dass Sie es nicht wagen sollten, jemals wieder Graffiti anzubringen.
Gertrud hatte sich mittlerweile beruhigt und strich nun wieder schwanzwedelnd durch die Beine ihres Herrchens. Mit einem um Verständnis bittenden Blick und noch leicht bebender Stimme wandte sich der Professor an Torben: „Mein lieber Freund, ich hoffe, diese kleine Begebenheit bleibt unser beider Geheimnis! Bedauerlicherweise ist es in Deutschland nämlich nicht gestattet, einen Stockdegen zu besitzen.“
Torben, von der ungewohnten Anstrengung keuchend und noch völlig gefangen von den Ereignissen der letzten Minuten, war der Einwand im Augenblick schlichtweg egal und er winkte ab. „Wenn das Ihre einzige Sorge ist, wird Ihre Bitte gewährt! Aber die Waffe anzuwenden, steht bestimmt noch unter einer höheren Strafe, meinen Sie nicht? – Wie haben Sie es nur geschafft, so schnell zu reagieren, und woher können Sie mit dem Stock, der Waffe oder was auch immer Sie da haben, so gut umgehen?“
Professor Meinert lächelte. „Sie meinen sicher, wie bekommt ein alter Mann das noch hin? – Zu meiner Zeit existierten keine über Weltfrieden, Gleichberechtigung und regenerative Energiequellen philosophierenden Studentenverbindungen, aber es gab schlagende Burschenschaften. Und ebenso wie der ehemalige Hausherr der Dammsmühle Heinrich Himmler war auch ich aktives Mitglied einer solchen! – Aber genug davon, ich mag zwar gerade äußerlich die Ruhe selbst sein, aber innerlich bin ich so aufgeregt wie vor meiner ersten Hochzeitsnacht!“
„Erste Hochzeitsnacht?“, fragte Torben.
„Ja, aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich will hier so schnell wie möglich raus. Zum einen, weil ich diesem Gesindel nicht traue, und zum anderen, weil ich zur Beruhigung meiner Nerven dringend einen Schluck Rotwein brauche. Ich schlage vor, wir reduzieren unsere Suche auf das Arbeitszimmer, in dem Reiher damals das Zusammenpacken beobachtet haben will. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Himmler viel Zeit in der Küche, die wir uns auch noch ansehen wollten, verbracht hat. Reiher hat Ihnen etwas von einem Zugang über den Salon im Ostflügel erzählt. Der Raum müsste dort den Flur entlang zu finden sein. Kommen Sie, mein junger Freund, sputen wir uns!“
Torben stimmte dem Professor zu und gemeinsam durchquerten sie recht eilig den Flur. Das schnellere Gehen half beiden, sich zu beruhigen und die durch den Stress ausgeschütteten Hormone abzubauen. Langsam gelang es Torben, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Plötzlich schlug ihm ein ekelerregender Gestank entgegen. Der Professor, der ebenso die Nase rümpfte, winkte ihn zu einem Zimmer auf der linken Seite. „Offensichtlich haben wir die Toilette unserer drei neuen Freunde gefunden!“, raunte er Torben zu und ging schnell weiter. Torben starrte jedoch noch einen Moment lang völlig ungläubig auf einige alte Zehnliterfarbeimer, die wie der Großteil des Fußbodens mit Kot und wahrscheinlich Urin gefüllt waren. Er kämpfte – während er die Luft anhielt – verzweifelt mit seiner Übelkeit und wandte sich schnellstmöglich ab. Er lief weiter den Korridor entlang, bis er sich halbwegs sicher sein konnte, wieder atmen zu können, ohne sich zu erbrechen. Gierig sog er die frischere Luft ein. Als er kurz darauf wieder zum Professor aufschloss, fragte er: „Was um alles in der Welt war denn das?“
„Es sieht so aus, als ob sich unsere neuen Freunde hier länger aufgehalten haben. Vielleicht haben sie den ganzen Winter hier verbracht. Ich nehme an, das Schloss verfügt über Kamine, die man noch nutzen kann. Sie haben den Müll verbrannt und es sich dabei gemütlich gemacht. Allerdings mussten sie auf den Luxus von fließendem Wasser verzichten. – Die Vorzüge eines Wasserklosetts lernt man erst schätzen, wenn einem keines zur Verfügung steht. O Gott, ich habe den Gestank immer noch in der Nase. Wir können nur froh sein, dass es noch nicht so warm ist, sonst hätten uns sicherlich die Insekten aufgefressen. Und jetzt lassen sie uns endlich unsere Suche fortsetzen! Ich vermute, dass die zweiflüglige Tür am Ende des Korridors zum Salon führen könnte.“
Torben zeigte ein zustimmendes Nicken. „Beeilen wir uns! Ich brauche nämlich dringend eine Dusche!“
Lediglich Gertrud schien der Gestank überhaupt nichts ausgemacht zu haben. Sie drängte augenscheinlich vielmehr danach, in den letzten Raum zurückzukehren, da der Professor sie mehrmals rufen musste.
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