„Bitte übersetzen!“, forderte Claudia, die geometrische Figuren auf ihren Schreibblock malte.
„Ich kann’s nicht übersetzen, hab’s aber gegoogelt. Die Charakteristika der siniden Typisierung sind unter anderem ein schlanker, mittelgroßer Körperwuchs, hervortretende Jochbeine, eine flache Nasenwurzel, gelblich braune Hautfärbung …“
„Erol! Mach’s kurz! Wo kommt der Mann her?“, drängte Claudia.
„Die Physiognomie des Opfers besitzt Merkmale, die für Menschen typisch sind, die aus dem mittleren und nordwestlichen China stammen oder deren genetische Vorfahren aus dieser Region …“
„Ein Chinese! Das hat uns gerade noch gefehlt!“, unterbrach Malte.
„Sorry, dass ich keine erfreulichere Nachricht habe. Menschen dieser Art leben auf der ganzen Welt verstreut: In den USA und Kanada leben etliche Millionen, in Südostasien und in Australien gibt es große chinesische Communities, in Singapur sind siebzig Prozent der Bevölkerung Chinesen. In Deutschland lebt eine Viertel Million, darunter mehrere Tausend Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Gastdozenten alleine an den Universitäten in Heidelberg und Mannheim.“
„Na ja, auch wenn das Alter noch passen könnte, ein Student wird das Opfer nicht gewesen sein“, wehrte Claudia ab.
„Vielleicht ein Doktorand?“, warf Malte ein.
Seine Vorgesetzte schüttelte den Kopf. „Morgen wird in allen Hochschulen nachgefragt, ob Chinesen vermisst werden. Larissa, übernimm du das. Mach in den Sekretariaten ordentlich Druck. Am Nachmittag will ich Ergebnisse sehen.“
„Ich möchte mich nicht einmischen, ich bin kein Kriminalbeamter.“ Marco hatte sich während Erols Vortag emsig Notizen gemacht. „Helfen uns vielleicht die Tätowierungen weiter?“
„Kann man noch nicht sagen. Auch das werden wir prüfen“, antwortete Erol, zog aus einem Stapel eine großformatige Farbfotografie vom Rücken der Leiche heraus und hob sie in die Höhe. Sofort ins Auge fiel ein sprungbereiter Tiger, der grimmig die Zähne fletschte und von acht gleichschenkligen Dreiecken und asiatischen Schriftzeichen umkreist war. Das aufwendige Arrangement beanspruchte fast die gesamte Fläche von den Schulterblättern bis hinunter zum Steiß. Daneben gab es noch kleinere, ornamentartige Tätowierungen im Nacken und auf den Armen des Opfers.
„Kann mir jemand sagen, ob das chinesische, japanische, koreanische oder sonst welche Schriftzeichen sind?“, forderte Claudia mit leicht gereizter Stimme.
Die Runde schwieg zunächst, dann wagte sich Larissa vor. „Ich schätze, es sind chinesische Zeichen.“
„Schätzen heißt nicht wissen. Ich will wissen , welche Bedeutung die Zeichen haben und was es mit diesen Ornamenten auf sich hat. Wer klärt das bis morgen Mittag?“
„Das im Nacken ist eine Yantra-Tätowierung, da bin ich mir sicher“, gab Larissa ein wenig eingeschnappt zurück.
„Yantra-Tätowierung?“
„Das sind religiöse Ornamente, die einen Bezug zum Buddhismus haben. Solche Tattoos sollen Glück, mystische Kräfte und Schutz vor dem Bösen verleihen. Sie sind in Südostasien sehr beliebt.“
„Dein Urlaub in Thailand hat sich ja sogar beruflich gelohnt“, kommentierte Claudia. „Was können wir aus dem bisher Bekanntem schlussfolgern?“
Es war Marco, der als Erster eine Idee hatte. „Die Kleinkaliberwaffe, ein misshandeltes asiatisches Opfer, das ohne Kleidung abgelegt wurde, die Tätowierungen …“
„Das Opfer wurde abgelegt?“, unterbrach ihn Claudia und dachte dann ebenfalls laut nach: „Welcher Mörder aus Leidenschaft, Rachsucht oder Geldgier macht sich die Mühe, sein Opfer zuerst zu erschießen, dann vollständig zu entkleiden, es zu schänden und die Leiche schließlich unter Vermeidung jeglicher Spuren an eine Stelle zu verfrachten, wo sie innerhalb kürzester Zeit gefunden werden musste?“
Malte griff nach einem Energieriegel und antwortete: „Du meinst, wenn es kein Wahnsinniger war, wurde die Leiche als Warnung in den Weinberg gebracht? Eins ist klar: Wenn jemand eine Leiche tatsächlich verschwinden lassen will, wählt er ganz sicher nicht den Madonnenberg kurz vor der Weinlese.“
Marco schlug eine weitere eng beschriebene Seite seines Notizblocks um. „Euch ist ganz sicher bekannt, dass Kleinkaliberwaffen nicht nur bei Sportschützen, sondern auch bei organisierten Banden und unter Auftragskillern beliebt sind. Kleinkaliber sind bei präzisen Schussserien leichter zu kontrollieren und ihr Lärmpegel ist geringer als der größerer Kaliber.“
„Das ist uns bekannt. Trotzdem vielen Dank für den Hinweis“, unterbrach Claudia den Schutzpolizisten im mittleren Dienst, der daraufhin das Thema wechselte.
„Frau Kriminalrätin, Sie sollten mir noch konkrete Vorgaben für die morgige Pressekonferenz geben. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ein wenig aufgeregt bin. Ich habe so etwas noch nie gemacht.“
Claudia nickte und sah, wie erledigt ihre Mannschaft war. „So, Leute, ihr geht jetzt nach Hause. Ich bereite mit Marco noch kurz die Pressekonferenz vor.“
Als die Truppe den Raum verlassen hatte, beruhigte Claudia ihren neuen Mitarbeiter. „Schon vergessen? Mein Name ist Claudia. Natürlich bist du bei der Pressekonferenz nicht alleine. Wir schaffen das!“
„Klingen… Autsch! So ein Mist!“
William hatte den Lautsprecher seines Smartphones eingeschaltet, aus dem nun ein klirrendes Geräusch drang. Ein Gegenstand musste auf einen harten Untergrund gefallen und dort zerbrochen sein.
„Hallo, mit wem spreche ich? Hallo! Wer sind Sie?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang genervt. William war überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass die vierstellige Telefonnummer tatsächlich zu einer Verbindung führen würde. Er erinnerte sich an seine amerikanische Großmutter, die jedermann Grandma Quaggy nannte. Sie war ebenfalls unter einer vierstelligen Telefonnummer erreichbar gewesen und hatte auf einer kleinen Farm inmitten der Sumpflandschaft westlich von New Orleans gelebt, wo es furchterregende Schlingpflanzen und zu jeder Jahreszeit Milliarden hinterlistiger Stechmücken gab. Aber ihr Jambalaya-Eintopf war eine Sensation: Statt Schinken ihrer stachligen Hausschweine verwendete die alte Lady als Suppeneinlage frische Ananas und das Brustfleisch von Flugkormoranen, die sie mit einer Schrotflinte vom Himmel pflückte. Aber all das lag eine halbe Ewigkeit zurück. Grandma Quaggy hatte längst das Zeitliche gesegnet.
„Hallo! Verdammt noch mal, warum melden Sie sich nicht?“
Sollte das wirklich die Stimme der Nichte seiner Mutter sein? Dann wurde die Verbindung beendet und William wurde aus dem Louisiana der Vergangenheit wieder in die deutsche Gegenwart katapultiert. Er hatte sich seinen Begrüßungssatz auf Deutsch vorerst umsonst zusammengestellt.
Der Vorname seiner Cousine war Frauke, dessen hartes „r“ und kantiges „k“ für Williams Geschmack nicht übermäßig weiblich anmuteten. Frauke lebte in Rebheim und war, wollte er den Aufzeichnungen seiner Mutter glauben, ein Jahr jünger als er. Das war aber auch schon alles, was William über diese Frau wusste. Seine Mutter hatte sich stets bemüht, ihm ihre deutsche Heimat und die dort zurückgelassene Familie näherzubringen. Aber William hatte damals weder an der deutschen Verwandtschaft noch an seiner Mutter Interesse gezeigt. Der einzige Mensch, der für den heranwachsenden Billy zählte, war sein Vater gewesen, der heldenhafte, im Dschungel von Kambodscha verschollene FBI-Agent Vincent LaRouche.
Doris Klingenberger hatte, nachdem sie dem damals einundzwanzigjährigen Vincent nach Amerika gefolgt war, nicht ein einziges Mal ihre kurpfälzische Heimat wiedergesehen. Ihr Leben kreiste nach dem Verschwinden ihres Ehemanns zunächst um den kleinen William und den Alkohol, später um Jesus Christus und die Herstellung opulenter alkoholfreier Torten. Ihre deutsche Familie war offenbar auch mit sich selbst beschäftigt und so bestand von beiden Seiten kein nachhaltiges Bedürfnis an einer Aufrechterhaltung der Verbindungen; vergilbte Fotos und verklärte Erinnerungen mussten ausreichen.
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