Lida Winiewicz - Späte Gegend

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"Späte Gegend" – so heißt bei uns die, wo ich her bin. Weil alles später reift. Wenn überhaupt: Manches reift gar nicht. Späte Gegend schildert eine längst in Vergessenheit geratene Lebensweise auf einem Bauernhof im 20. Jahrhundert. Schonungslos ehrlich, eindrücklich und liebevoll hat Lida Winiewicz die Lebensgeschichte einer 80- jährigen Bäuerin niedergeschrieben, wie sie selten bewahrt wird. Sie erzählt vom ruralen Alltag und seinen Gepflogenheiten: von der harten Arbeit, der Viehpflege, vom ständigen Hunger und Sparen, von den Dienstbotenjahren, den Gaststuben, den Hausmitteln, vom Wohnen auf engstem Raum und in einer Großfamilie. Es ist eine authentische Aufzeichnung geworden, ein Stück Zeitgeschichte.

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LIDA WINIEWICZ SPÄTE GEGEND Protokoll eines Lebens Späte Gegend erschien - фото 1

LIDA WINIEWICZ

SPÄTE GEGEND

Protokoll eines Lebens

Späte Gegend erschien erstmalig 1986 beim Paul Zsolnay Verlag Bibliografische - фото 2

Späte Gegend erschien erstmalig 1986 beim Paul Zsolnay Verlag.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: Shutterstock / © Everett Collection

ISBN 978-3-99200-281-8

eISBN 978-3-99200-282-5

Inhalt

Späte Gegend

Worterklärungen: Österreichisch – Deutsch

»Späte Gegend« – so heißt bei uns die, wo ich her bin. Weil alles später reift. Wenn überhaupt: Manches reift gar nicht.

Das wächst nicht.

Jetzt ist das anders, seit es den Kunstdünger gibt und die Unkrautvertilger. Die schaden, aber schuld sind die großen Mähdrescher: blasen das Unkraut einfach aufs Feld zurück, dort bleibt es liegen und keimt, und dann braucht man im nächsten Frühjahr mehr Kunstdünger und mehr Vertilger und noch mehr und immer mehr, und das kann auf die Dauer nicht guttun.

Wir haben das Unkraut mit der Hand ausgerissen. Trotzdem ist bei uns, wie ich jung war – jetzt bin ich siebenundsiebzig –, nicht einmal Obst gediehen.

Der Nikolo hat mir einmal zwei Äpfel gebracht, vier Stück Zucker und einen Bleistift, alles in einer Hirschseifeschachtel. Die gibt’s heute auch nicht mehr, die Hirschseifeschachteln. Ich weiß, ich war damals keine fünf Jahre, aber mehr gefreut hab ich mich mein ganzes Leben mit nichts als mit dieser Hirschseifeschachtel, und so sehr gefreut, wie mit der, wenn ich alles zusammennehme, vielleicht allerhöchstens zehnmal. Das macht, ungefähr gerechnet, jedes siebente Jahr eine Freude. Vielleicht ist das gar nicht so wenig. Manche Leute freuen sich nie.

Der Nikolo war ein Soldat, ein Bauernsohn von gegenüber, der war einen einzigen Tag vom Ersten Weltkrieg daheim, und an diesem Tag, da ist er zu uns herübergekommen. Das war eine große Ehre: wir waren Kleinhäuslerskinder.

Dass es der Soldat war, das hab ich erst Jahre später begriffen. Wie er bei uns war, war er der leibhaftige Nikolo. Zum Glück ist er nicht gefallen, aber lang gelebt hat er nicht, obwohl er kein Steinmetz war.

Am Abend vorm Lichtanzünden, wenn’s nicht mehr hell genug war zum Arbeiten, aber nicht finster genug für teures Petroleum, da sind die Frauen mit uns Kindern drinnen in der Stube gesessen und haben für die Männer gebetet, die draußen im Krieg waren, für alle, Rosenkranz um Rosenkranz.

Wann ich beten gelernt hab, das könnt’ ich heute nicht mehr sagen, aber ich weiß, die Mutter hat das Jüngste (wir waren sechs Geschwister) bei sich gehabt im Bett, nicht mehr an der Brust, aber fast, und das hat schon mitbeten müssen. Drum denk’ ich, ich werd’s wohl auch um die Zeit bei der Mutter gelernt haben, und wenn ich schon im Reden bin, dann sollt’ ich sagen, das Gebet, das ich mit der größten Andacht gebetet hab, mit der meisten, allermeisten Inständigkeit, das war ein Gebet, für das hätt’ ich mich eigentlich schämen müssen, und das ist so zugegangen: Wir haben immer Hunger gehabt. Das war so. Ich wüsst’ keinen Menschen, dem’s besser gegangen wär, keinen jedenfalls, den ich gekannt hab. Wir sind niemals satt geworden.

Unsere zwei Ziegen haben Gras von einem Feldrain gefressen, der hat einem Bauern gehört, Bachecker hat er geheißen, und dafür, dass die Ziegen dieses Gras fressen durften, hat unsere Mutter für den Bachecker arbeiten müssen: Erdäpfel graben, heuen, Kraut schneiden, wie’s eben war. Wenn die Ziegen trächtig waren, waren sie auch trocken, das heißt, sie haben keine Milch gegeben. Gefressen haben sie aber doch, also hat für die Mutter die Arbeit nie aufgehört, Milch oder keine Milch.

Die beiden Ziegen haben Evi und Mixi geheißen, immer wieder Evi und Mixi, auch die nachgewachsen sind.

Nun ist eines Tages der Vater aus dem Krieg auf Urlaub gekommen und hat nichts geredet, fast nichts – später hab ich erfahren, warum – und da hat die Mutter die letzten Erdäpfel zusammengeklaubt und das allerletzte Schmalz und hat die Erdäpfel geröstet, mit Zwiebeln, ich riech’ es noch heut’, und vor ihn hingestellt in einer eisernen Rein, und er hat gegessen, und ich, ich bin hinter ihm gestanden und hab ihm zugeschaut und die Hände gefaltet und gebetet, er soll was übrig lassen, mit meiner ganzen Kraft.

Eine Schmeißfliege ist gekommen, dicht vor mein Gesicht. Man sagt, der Teufel kommt gern als Fliege, ich wollt’ ihn verjagen, aber ich hab mich nicht getraut, die Hände auseinanderzutun, wegen der Andacht, aus Angst, dass dann das Gebet nicht mehr hilft.

Der Vater hat alles aufgegessen.

Damals war ich ungefähr sechs.

Mein Vater war Steinmetz. Meine Brüder sind auch Steinmetze geworden. Es hat, außer Steinmetz, für Männer keinen Beruf gegeben, wo sie was verdienen konnten, bei uns in der Gegend. Steine waren genug da: Granit.

Es war da ein ganzes Tal, da sind die Steinmetze gesessen, jeder in einer Art Verschlag, viereckig, an zwei Seiten offen, und haben geklopft. Das waren die richtigen, die gelernten. Die anderen haben die Blöcke im Steinbruch herausgehaut. Die haben auch Steinmetze geheißen, aber nur dem Namen nach.

Steinmetze sind jung gestorben. Das hat man gewusst, das hat niemanden gewundert: die schwere Arbeit, der Steinstaub, das viele Bier. Staub macht durstig. Keiner meiner Brüder ist älter als vierzig Jahre geworden, und der Vater, den hat obendrein der Krieg invalid gemacht.

Ich bin oft ins Steinmetztal – ich war vielleicht sieben, acht Jahre – und hab im Vorübergehen den Steinmetzen zugeschaut. Stehenbleiben hab ich nicht dürfen, weder hin noch her, an beiden Enden hat jemand auf mich gewartet: im Tal der Vater aufs Essen, zu Haus die Mutter mit der Arbeit.

Das Essen war warm – Knödel, Strudel, Sterz, Beerenkoch, nie Fleisch! – und bis ich beim Vater war, war’s ausgekühlt. Zu gehen waren drei Kilometer.

Der Vater hat sich nie beklagt.

Steinmetze sind mit wenig Handwerkszeug ausgekommen: ein Hammer und viele Meißel, vom gröbsten zum allerfeinsten, mehr haben sie nicht gebraucht. Ein eigener Steinmetzschmied hat die Meißel scharf gemacht, mit Feuer und Wasser und Blasbalg. Dann sind die Funken geflogen.

Der Schmied hat Katzberger geheißen. Ich hab mich gefürchtet vor ihm.

Die Arbeit im Tal hat um sieben in der Früh angefangen und bei Dunkelheit aufgehört. Bezahlt wurde Stück für Stück. Die Stücke waren Grabsteine.

Wenn einmal bei einer Verzierung was ausgebrochen ist, und wenn’s was ganz Winziges war, war das ein Abzug. Dann hat der Vater zum Schluss noch weniger Geld heimgebracht und noch weniger geredet.

Zu hören hat’s nicht viel gegeben bei uns daheim. Nicht einmal Glocken! Die Kirche war zu weit weg. Im Dorf war eine kleine Kapelle, aber nur zum Rosenkranzbeten, die hat keine Glocke gehabt.

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