Ihre etzetera
Fanny Squeers
P.S. Ich bemitleite seine Unwissenheit un verachte ihm.«
Stumm und niedergeschlagen und mit dem Ausdruck tiefsten Kummers hatte Nikolas diese Epistel zu Ende angehört. Eine Weile saß er sinnend da, dann sprang er plötzlich auf und griff nach seinem Hut.
»Wohin wollen Sie denn jetzt noch so spät?« rief Newman.
»Nach Golden Square. Niemand, der mich kennt, wird diese Geschichte von dem Ring glauben, aber sie kann vielleicht den Zwecken meines Onkels entsprechen. Ich bin es mir selbst schuldig, daß die Wahrheit ans Licht kommt, und außerdem habe ich noch ein paar Worte mit ihm zu sprechen, die keinen Aufschub dulden.«
»Aber Sie müssen es aufschieben!« riet Newman.
»In keinem Falle«, erwiderte Nikolas mit Festigkeit und schickte sich an zu gehen.
»So hören Sie mich doch nur an«, bat Newman und vertrat ihm den Weg. »Er ist doch gar nicht zu Hause. Er ist über Land und wird vor drei Tagen nicht zurückkommen. Auch weiß ich gewiß; daß das Schreiben erst beantwortet wird, wenn er wieder hier ist.«
»Sind Sie dessen auch ganz gewiß?« fragte Nikolas, glühend vor Entrüstung in dem engen Raum mit raschen Schritten auf und ab gehend.
»Ganz gewiß. Er hatte den Wisch kaum gelesen, als er abberufen wurde. Sein Inhalt ist niemand als ihm und uns bekannt.«
»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Nikolas hastig.
»Nicht einmal meiner Mutter oder meiner Schwester? Wenn ich denken müßte, daß – nein, ich will hingehen, ich muß sie sehen. Welchen Weg habe ich einzuschlagen? Wo wohnen sie?«
»Aber so nehmen Sie doch Vernunft an«, rief Newman, der in diesem ernsten Augenblick wie ein ganz anderer Mensch sprach. »Verschieben Sie Ihren Besuch, bis er nach Hause kommt. Ich kenne den Mann. Es darf nicht den Anschein haben, als ob Sie ihn für sich zu gewinnen versucht hätten. Wenn er wieder zurück ist, so treten Sie vor ihn hin und reden mit ihm so unverblümt, wie es Ihnen beliebt. Verlassen Sie sich übrigens darauf, er durchschaut die Wahrheit so gut wie Sie oder ich.«
»Sie meinen es gut mit mir und müssen es natürlich besser wissen als ich«, gab Nikolas nach einer Pause des Nachsinnens zu. »Nun, meinetwegen.«
Newman, der sich mit dem Rücken gegen die Türe gestellt hatte, um nötigenfalls seinen Gast mit Gewalt zurückzuhalten, nahm sehr zufrieden seinen Platz wieder ein und mischte, da das Wasser im Kessel inzwischen heiß geworden, ein Glas Grog für Nikolas und dann noch einen Krug voll, von dem er sowohl wie der arme durchfrorene Smike in großer Eintracht Gebrauch machten, während Nikolas, den Kopf auf die Hand gestützt, in trübem Sinnen vor sich hinstarrte.
Die Gesellschaft in der Beletage hatte sich inzwischen wieder in das Zimmer der Kenwigs' zurückgezogen und gab sich einer Menge von Vermutungen hinsichtlich der Ursache von Mr. Noggs' plötzlichem Verschwinden hin.
»Lieber Himmel, wenn etwa gar ein Expreßbote mit der Kunde angekommen wäre, daß er sein früheres Vermögen wieder zurückgewonnen habe?« meinte Mrs. Kenwigs.
»Bei Gott, unmöglich wäre es schließlich nicht«, sagte Mr. Kenwigs. »Wir täten für diesen Fall vielleicht gut, wenn wir hinaufschickten und fragen ließen, ob ihm nicht noch etwas Punsch gefällig ist.«
»Kenwigs!« fiel Mr. Lillyvick mit lauter Stimme ein. »Sie setzen mich in Erstaunen.«
»Wieso, Sir?« fragte Mr. Kenwigs mit der gebührenden Ergebenheit gegen den Einnehmer der Wassersteuer.
»Weil Sie eine solche Bemerkung machen. Ich dächte, der Herr hätte bereits Punsch genug gehabt; oder vielleicht nicht, Sir? Ich sehe überhaupt in der Art, mit der er mir den Punsch, um mich eines geeigneten Ausdruckes zu bedienen, geraubt hat, etwas höchst Unehrerbietiges gegenüber der Gesellschaft, ja sogar Skandalöses – etwas ausgesprochen Skandalöses. Es mag vielleicht Sitte in diesem Hause sein, sich derartige Dinge gefallen zu lassen, aber ich bin nicht gewöhnt –«
»Ich muß abermals um Entschuldigung bitten, daß ich störe«, unterbrach Mr. Crowl die Rede des Herrn Wassersteuereinnehmers und guckte wieder zur Türe herein, »aber das ist wirklich eine seltsame Geschichte. Was? Noggs wohnt jetzt schon fünf Jahre in diesem Hause, und die ältesten Mietsleute können sich nicht erinnern, je einen Besuch bei ihm gesehen zu haben.«
»Gewiß etwas höchst Seltsames, wenn man so in der Nacht abberufen wird«, tobte der Wassersteuereinnehmer, »und das Benehmen Mr. Noggs' ist, im mildesten Lichte betrachtet, zumindest sehr geheimnisvoll.«
»Da haben Sie sehr recht«, versetzte Crowl; »und ich will Ihnen noch mehr sagen; ich glaube, diese zwei Kraftgenies, wer sie auch sein mögen, sind irgendwo entlaufen.«
»Was bringt Sie auf diese Vermutung?« fragte der Wassersteuereinnehmer.
»Ich hoffe, Sie haben keinen Grund zu der Annahme, daß sie irgendwo entlaufen sind, ohne ihre Steuern und Taxen bezahlt zu haben?«
Mr. Crowl rümpfte die Nase und war eben im Begriffe, gegen die Bezahlung von Steuern und Taxen im allgemeinen zu protestieren, als die Aufmerksamkeit der Anwesenden aufs neue und diesmal durch einen höchst aufregenden Vorfall in Anspruch genommen wurden.
Es ertönte nämlich plötzlich, allem Anschein nach aus dem Dachhinterstübchen herab, in der der junge Master Kenwigs in seiner Wiege schlummerte, ein furchtbares Jammergeschrei. Mrs. Kenwigs verfiel sogleich auf die Vermutung, eine fremde Katze habe sich eingeschlichen und dem Kleinen im Schlafe das Blut ausgesaugt, und stürzte händeringend nach der Türe.
»Kenwigs, sehen Sie lieber nach! Eilen Sie, eilen Sie!« rief die Schwester der Festgeberin dem Elfenbeindrechsler zu und hielt Mrs. Kenwigs mit Gewalt zurück.
»Mein Kind, mein Ki-ind«, kreischte die verzweifelte Mutter.
»Mein Einziges und Alles, mein liebes, unschuldiges Ki-ind! Laßt mich zu ihm, laßt mich ge-he-he-hen!«
Mit Windeseile war inzwischen der Drechsler die Stiegen hinaufgeeilt. An der Türe des Zimmers, aus dem die Töne, die zu dieser Verwirrung Anlaß gegeben, kamen, rannte er an Nikolas, der, das Kind auf den Armen, herausstürzte, mit solcher Wucht an, daß er sechs Stufen hinuntersauste und gegen das nächste Geländer anflog, ehe er noch Zeit gehabt hatte, den Mund zu der Frage zu öffnen, was es denn eigentlich gebe.
»Seien Sie außer Sorge«, rief Nikolas hinuntereilend. »Es ist schon alles vorbei. Es ist alles gut abgelaufen. Ich bitte, fassen Sie sich. Es ist weiter kein Unglück geschehen.«
Mit diesen und ähnlichen Versicherungen übergab er das Kind, das er in der Eile den Kopf nach abwärts heruntergeschleppt hatte, Mrs. Kenwigs und stürmte wieder hinaus, um dem Elfenbeindrechsler beizustehen, der, von seinem Falle noch nicht völlig zu sich gekommen, sich mit verwirrten Blicken den Kopf rieb.
Durch diese frohe Kunde beruhigt, erholten sich die Gäste nach und nach wieder von ihrem Schrecken, der auf einige von ihnen geradezu lähmend gewirkt hatte; der würdige Mr. Lillyvick war der einzige gewesen, der seinen Gleichmut beibehalten, wenigstens hatte er hinter der Zimmertüre Miss Petowker so ruhig geküßt, als ob ganz und gar nichts Ungewöhnliches geschehen wäre.
»Die Sache ist ganz und gar nicht von Bedeutung«, berichtete Nikolas, als er zu Mrs. Kenwigs zurückkehrte. »Das kleine Mädchen, das auf das Kind achtgeben sollte, ist, vermutlich aus Ermüdung, eingeschlafen und hat mit dem Haar Feuer gefangen. Ich habe sie schreien hören und kam noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß die Flamme weiter um sich griff. Sie können sich darauf verlassen, das Kind ist unversehrt. Ich nahm es selbst aus dem Bett.«
Sofort fiel alles über den Kleinen, der, nach dem Steuereinnehmer getauft, sich des Namens Lillyvick Kenwigs erfreute, her, erstickte ihn fast mit Liebkosungen, bis er glücklich wieder zu schreien anfing, und wendete sich dann mit den bittersten Vorwürfen an das kleine dreizehnjährige Mädchen, das die Kühnheit gehabt hatte, Feuer zu fangen. Mr. Kenwigs entließ es zwar nach verschiedenen kleinen Püffen in Gnaden, die neun Pence, die ihr als Lohn verheißen worden, wurden ihr aber begreiflicherweise gestrichen.
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