»Aber was ist Ihnen denn? Sind Sie unwohl?« unterbrach er sich plötzlich, als der Schreiber sich in den verschiedenartigsten seltsamsten Stellungen verdrehte, die Hände unter seinem Sitz verkrampfte und mit den Gelenken knackte, als wolle er sich alle Finger zerbrechen.
Newman Noggs erwiderte kein Wort und fuhr nur fort, die Achseln zu zucken und mit den Knöcheln zu knacken. Dabei verzog er das Gesicht zu einem grauenhaften Lächeln und starrte mit gespenstigem Ausdruck unverwandten Blickes ins Leere.
Anfangs glaubte Nikolas, der rätselhafte Mensch habe einen Anfall von Veitstanz, aber bei weiterer Überlegung entschied er sich für die Meinung, er wäre wohl betrunken, und hielt es daher für das vernünftigste, sich ohne weitere Erklärung zu entfernen. Als er die Türe öffnete, blickte er noch einmal zurück, aber Newman Noggs erging sich noch immer in denselben seltsamen Gebärden, und das Knacken seiner Finger tönte noch lauter als vorher.
5. Kapitel: Nikolas begibt sich nach Yorkshire auf die Reise und nimmt Abschied von den Seinigen. – Seine Reisegefährten, und was unterwegs vorfiel
Wenn Tränen, die in einen Koffer träufeln, ein Schutzmittel wären, das den Eigentümer vor Leid und Mißgeschick bewahren könnte, so hätte Nikolas Nickleby seine Reise unter den glücklichsten Vorbedeutungen begonnen. Man hatte soviel zu tun und doch so wenig Zeit dazu; so viele herzliche Worte zu sprechen und doch so bitteren Schmerz im Herzen, daß die Vorbereitungen für die Reise in größter Trauerstimmung getroffen wurden.
Nikolas bestand darauf, hunderterlei Dinge, die Mutter und Schwester in ihrer Besorgnis für unentbehrlich für ihn hielten, nicht mitzunehmen, da sie den Seinigen in der Not vielleicht nützlich sein und erforderlichenfalls zu Geld gemacht werden könnten. Manch zärtlicher Wortwechsel über derartige strittige Punkte fand in der traurigen Nacht statt, die seiner Abreise voranging, und je näher sie das Ende eines jeden dieser harmlosen Zwiste dem Schlusse ihrer Vorbereitungen brachte, desto geschäftiger wurde Kate und desto mehr weinte sie im stillen.
Der Koffer war endlich gepackt, und dann wurde das Abendessen mit einigen für diesen Anlaß bereiteten Leckerbissen herbeigebracht, deren Bestreitung willen Kate und ihre Mutter insgeheim nicht zu Mittag gegessen hatten. Die Bissen quollen jedoch Nikolas im Munde, und es wollte ihm fast das Herz brechen, trotzdem er sich bemühte, fröhlich zu sein, und sich zwang zu lächeln.
Um sechs Uhr morgens nach einem unruhigen Schlummer erhob er sich leise, schrieb mit Bleistift einige Worte des Abschieds auf einen Zettel, da er sich den Schmerz eines mündlichen Lebewohls ersparen wollte, legte ihn nebst der Hälfte seiner spärlichen Barschaft vor die Türe seiner Schwester, nahm seinen Koffer über die Schultern und schlich sachte die Stiegen hinunter.
»Hanna, bist du's?« rief Miss La Creevy aus ihrem Arbeitszimmer, aus dem hervor der matte Schein eines Kerzenlichtes die Wand des Stiegenhauses beleuchtete.
»Nein, ich bin's, Miss La Creevy«, sagte Nikolas, setzte seinen Koffer nieder und blickte in die Stube.
»O du mein Himmel«, rief Miss La Creevy aufspringend und fuhr sich mit der Hand nach ihren Haarwickeln. »Sie sind aber sehr früh auf, Mr. Nickleby.«
»Sie gleichfalls, Madame«, erwiderte Nikolas.
»Die Kunst lockt mich so zeitig aus den Federn, Mr. Nickleby. Ich warte, bis es hell wird, um eine Idee auszuführen.« Miss La Creevy war nämlich so früh aufgestanden, um eine Phantasienase in das Miniaturporträt eines häßlichen kleinen Jungen zu malen, das die Bestimmung hatte, seiner Großmutter auf dem Lande geschickt zu werden, in der Erwartung, sie würde ihn in ihrem Testament besonders bedenken, wenn sie bei dem Bilde eine Familienähnlichkeit herausfinde.
»Eine Idee auszuführen«, wiederholte Miss La Creevy, »und da kommt mir der Umstand, daß ich in einer so belebten Straße, wie der Strand ist, wohne, sehr zustatten. Wenn ich einer passenden Nase oder eines Auges für einen meiner Kunden bedarf, so brauche ich mich bloß ans Fenster zu setzen und zu warten, bis das vorbeikommt, was ich brauche.«
»Dauert es lange, bis eine geeignete Nase vorbeikommt?« fragte Nikolas lächelnd.
»Das hängt doch ganz davon ab, was es für eine sein soll. Stumpfnasen und Habichtsnasen gibt es genug, und Plattnasen von jeder Sorte und Größe trifft man, wenn es eine Versammlung in Exeter Hall gibt; aber wirkliche Adlernasen sind, wie ich mit Bedauern gestehen muß, sehr selten, und doch brauchen wir sie so oft für Offiziere und öffentliche Würdenträger.«
»Wirklich? Nun, wenn mir auf meinen Reisen eine solche vorkommen sollte, so will ich versuchen, Ihnen ein Konterfei davon anzufertigen.«
»Sie wollen damit doch nicht sagen, daß Sie wirklich die Absicht haben, bei diesem kalten Winterwetter den weiten Weg nach Yorkshire hinunter zu machen, Mr. Nickleby?« fragte Miss La Creevy. »Ich hörte Sie am verflossenen Abend davon sprechen.«
»Allerdings habe ich die Absicht«, erwiderte Nikolas. »Sie wissen, die Not kennt kein Gebot.«
»Nun, da kann ich weiter nichts sagen, als daß es mir wirklich leid tut, sowohl um Ihrer Mutter und Schwester als auch um Ihretwillen. – Ihre Schwester ist ein so hübsches Mädchen, Mr. Nickleby, und schon deswegen könnte sie sehr notwendig einen Beschützer brauchen. Ich habe sie überredet, mir ein paarmal zu sitzen, um ihr Bild für meinen Haustürrahmen benutzen zu können. Oh, das wird eine herrliche Miniatüre geben.«
Mit diesen Worten hielt Miss La Creevy ein auf Elfenbein gemaltes Porträt mit sehr deutlich ausgeführten blauen Adern empor und betrachtete es mit so viel Wohlgefallen, daß Nikolas sie ordentlich beneidete.
»Wenn Sie je Gelegenheit haben sollten, Kate irgendeinen kleinen Liebesdienst zu erweisen, nicht wahr, Sie werden es tun?« fragte er, ihr die Hand reichend.
»Sie können sich darauf verlassen«, versprach die gutmütige Porträtmalerin. »Gott sei mit Ihnen, auf daß es Ihnen wohl ergehe, Mr. Nickleby.«
Nikolas kannte die Welt nur wenig, glaubte aber, es könne jedenfalls nicht schaden und es werde Miss La Creevy für die Seinigen günstig stimmen, wenn er ihr einen Kuß gäbe. Er versetzte ihr daher drei oder vier in einer Art scherzhafter Galanterie, und Miss La Creevy legte dagegen kein stärkeres Mißfallen an den Tag, als daß sie ihren gelben Turban zurechtrückte und erklärte, das sei doch wirklich unerhört, und sie hätte nicht geglaubt, daß so etwas überhaupt möglich wäre.
Als dieses Tête-à-tête sich in so befriedigender Weise abgewickelt hatte, verließ Nikolas eilig das Haus. Es war erst sieben Uhr, als er einen Mann auftrieb, der ihm seinen Koffer trug. Neugierig betrachtete er die geschäftigen Vorbereitungen für den kommenden Tag, die in jeder Straße und vor jedem Hause getroffen wurden, und dachte sich, wie hart es für ihn sei, so weit reisen zu müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wo doch so viele Menschen in London durchkamen. Als er endlich vor dem Mohrenkopf in Snow Hill anlangte, den Träger entlohnte und seinen Koffer wohlbehalten im Postbureau eingestellt hatte, sah er sich in den Kaffeezimmern nach Mr. Squeers um.
Er fand den Schulmeister gerade beim Frühstück, und die drei bereits erwähnten Knaben sowie zwei andere, die Squeers durch einen glücklichen Zufall inzwischen noch aufgetrieben hatte, saßen in einer Reihe auf einer Bank gegenüber. Mr. Squeers hatte eine kleine Kaffeekanne, eine Platte mit gerösteten Brotschnitten und ein Stück kaltes Rindfleisch vor sich und war im Augenblick beschäftigt, das Frühstück für seine Zöglinge zu bereiten.
»Das soll für zwei Pence Milch sein, Kellner?« fragte er und sah in einen großen blauen Krug, den er ein wenig schräg vor die Augen hielt, um einen genauen Einblick über die enthaltene Flüssigkeit zu gewinnen.
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