Damals träumten die Wortführer im VSStÖ von der revolutionären Einheit zwischen Arbeitern und Studenten. Schon der erste Versuch, diese Einheit herzustellen, schlug fehl. Die Raxwerke in Wiener Neustadt standen vor der Schließung beziehungsweise Teilprivatisierung, und die dortigen Arbeiter drohten mit Streik. Im Büro der SPÖ-Studenten wurden Flugzettel hergestellt, in denen für eine Arbeiterselbstverwaltung der Raxwerke plädiert wurde. Eine gemeinsame Delegation von VSStÖ und Sozialistischen Mittelschülern machte sich auf den Weg nach Wiener Neustadt. Schon vor dem Fabriktor wurde diese von den Arbeitern abgewiesen. Die wollten von den revolutionären Phrasen nichts wissen. Die zurückgekehrten Studenten empörten sich: »Die Arbeiter haben überhaupt kein Klassenbewusstsein!« Die Arbeiter im »Vorwärts«, obwohl alle Mitglieder der SPÖ, waren auf die Studenten auch nicht gut zu sprechen. Im Vordergrund stand für diese die nächste Lohnerhöhung und nicht eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft.
Herbert Marcuse, der damals von den Studenten verehrte deutsch-amerikanische Soziologe, hatte es vorhergesehen. Mit der revolutionären Potenz der Industriearbeiterschaft sei nicht zu rechnen, weil sie von »repressiver Toleranz« umnebelt seien, wie er in seinem Buch Der eindimensionale Mensch erklärte. Den Studenten komme daher die Führungsrolle innerhalb der revolutionären Intelligenz zu. Man las viel in dieser Zeit, von Marx bis Gramsci, von Sartre bis Adorno. Letzterer kam dann auch auf Einladung des VSStÖ im April 1967 nach Wien, um an der Universität einen Vortrag über neue Aspekte des Rechtsradikalismus zu halten. Anlass waren die erstaunlichen Wahlerfolge der NPD, die in Deutschland in mehrere Landesparlamente einzog. Einiges von Adornos Analyse trifft auch auf das heutige Erstarken der Rechten zu.
Absolutes Feindbild war für die linken Studenten Karl Popper. Besonders ein Werk hatte es ihnen angetan: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde . Popper wendet sich darin gegen geschlossene Systeme und Ideologiekonstruktionen. Als positives Gegenbild zu diesen »geschlossenen Gesellschaften« entwirft Popper eine »offene Gesellschaft«, die nicht am Reißbrett geplant ist, sondern sich pluralistisch in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen evolutionär fortentwickelt. Bruno Kreisky hat das genauso gemacht. Die Demokratisierung der Gesellschaft hat er als permanenten Prozess gesehen. Es war dies ein evolutionäres Konzept im Gegensatz zum revolutionären Entwurf der linken Studenten. Kreisky gelang mit seinem Ansatz das, was den Studenten verwehrt blieb: eine Einheit von Intellektuellen und Arbeitern, zumindest in der Wahlkabine. Nie wieder nachher hat die SPÖ diese beiden Gruppen so hinter sich versammeln können wie unter Kreiskys Parteivorsitz.
Die Entfremdung zwischen der SPÖ und ihrer Studentenorganisation erreichte 1968 ihren Höhepunkt, als die Parteijugend die Maifeier der SPÖ am Wiener Rathausplatz störte. Kreisky war wütend und verlangte eine Entschuldigung, widrigenfalls der VSStÖ aus der Partei ausgeschlossen werde. Der VSStÖ kroch zu Kreuze, 13 Funktionäre verließen daraufhin den VSStÖ und gründeten eine eigene linke Gruppe. Es war dies der Beginn weiterer Spaltungen. Das Verhältnis des VSStÖ zur Mutterpartei blieb weiter angespannt. Kreisky drohte vor allem mit Konsequenzen, wenn die Parteijugend gemeinsame Aktionen mit kommunistischen Jugendorganisationen durchführte. Es kam auch mehrmals zur Sperre der finanziellen Unterstützung. Auch wenn Kreisky mit den SPÖ-Studenten immer wieder in Konflikt geriet, die 68er-Bewegung hat – trotz ihrer zeitweiligen Entartungen – wahrscheinlich den Weg für die Erfolge der Sozialdemokratie in Westeuropa erleichtert. Begonnen hat diese Bewegung schon Anfang der 1960er-Jahre in den USA mit den Protesten der Afroamerikaner gegen ihre Unterdrückung und setzte sich fort mit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Die Proteste schwappten schließlich nach Europa über und hatten zunächst in Paris 1968 ihren Höhepunkt. Von da kam die Bewegung über Deutschland auch nach Österreich – mit Verspätung und in abgeschwächter Form. Der Kampf gegen falsche Autoritäten, für Mitbestimmung, für sexuelle Freiheit, für das Aufbrechen alter Strukturen half sicherlich mit, den Boden für den Machtwechsel zur Sozialdemokratie zu bereiten. 1967 brach ich das Studium ab und trat in die Redaktion der Neuen Zeitung ein. Damit war auch meine Mitgliedschaft bei den SPÖ-Studenten zu Ende.
DER NIEDERGANG DER ARBEITER-ZEITUNG
Kurz nach Antritt der Minderheitsregierung Kreisky im Jahr 1970 wechselte ich von der Neuen Zeitung zum Zentralorgan der SPÖ, der Arbeiter-Zeitung . Der SPÖ ging es gut, der AZ immer schlechter. Die Auflage sank unaufhörlich. In Verkennung der wahren Ursachen ortete die Redaktion die Schuld beim schlechten Vertrieb und mangelnder Werbung und ersuchte bei Kreisky um einen Termin. An einem Sonntagnachmittag um 15 Uhr empfing Kreisky eine kleine Gruppe von AZ -Redakteuren einschließlich meiner Wenigkeit im Garten seiner Villa in der Armbrustergasse. Kreisky saß in der Hollywood-Schaukel, die AZ -Redakteure auf Sesseln rund um den Vorsitzenden. Er habe den ganzen Nachmittag Zeit, kündigte Kreisky an, für 19 Uhr habe er einen Theaterbesuch geplant. Er habe diesen Besuch Olive Moorefield versprochen, einer damals in Wien sehr bekannten aus den USA stammenden Sängerin. Auf dem Programm stand das Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bert Brecht. Bevor wir unser Anliegen vorbringen konnten, hielt uns Kreisky ein politisches Referat über die Situation der Partei. Er bewertete jeden einzelnen der Landesparteivorsitzenden, hatte dieses oder jenes auszusetzen. Dann kamen die Minister dran, mit einigen Einwänden, aber überwiegend doch positiv bewertet. Als Kreisky auf Hannes Androsch zu sprechen kam, änderten sich Tonfall und Körpersprache. Er sprach so, wie ein Vater über seinen geliebten Sohn spricht: als hoffnungsvollen Nachwuchs. Das sollte sich ändern, als Kreisky den aufstrebenden, in der Partei sehr beliebten Finanzminister nicht mehr als Nachwuchshoffnung, sondern als Konkurrenten wahrzunehmen glaubte. Bei unserem Gespräch mit Kreisky im Jahr 1973 war das Verhältnis zwischen den beiden offensichtlich noch ungetrübt.
Nach eineinhalb Stunden hatte Kreisky alle Spitzenpolitiker der SPÖ bewertet und wir hatten noch immer nicht darüber gesprochen, was der Redaktion unter den Nägeln brannte. Kreisky kam dann noch auf seinen bevorstehenden Theaterbesuch des Brecht-Stückes zu sprechen: »Hab’ ich euch schon erzählt, wie ich in Schweden Bertold Brecht getroffen habe?« In Erwartung spannender Gespräche zwischen dem Kommunisten Brecht und dem Sozialdemokraten Kreisky hörten wir zu. Kreisky holte weit aus und berichtete zunächst von seiner Reportertätigkeit für eine schwedische Zeitung über den sowjetisch-finnischen Winterkrieg. Da habe er übrigens auch den finnischen Nobelpreisträger für Literatur getroffen: »Wie hieß der noch?«, fragte sich Kreisky selbst, in seiner Erinnerung kramend. Der gebildete AZ -Redakteur Günter Traxler half aus: »Sillanpää!« Es war dies in den ersten zwei Stunden das erste Mal, dass Kreisky in seinem Redefluss kurz innehielt. Danach verharrte Kreisky noch eine Stunde im finnischen Winterkrieg. Brecht hatte er noch immer nicht getroffen. Uns AZ -Redakteuren rann die Zeit davon, da der Beginn des Theaterabends näher rückte. Schließlich erzählte Kreisky, er habe nach seiner Rückkehr nach Österreich erfahren, dass Brecht im selben Haus wie er gewohnt hatte: »Das muss der kleine Stoppelglatzige gewesen sein, mit dem ich ein paar Mal im Aufzug gefahren bin.« Also keine Diskussion mit Brecht. Das war die erste Enttäuschung des Nachmittags.
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