»Kein Thema, ich bin fertig, kommen Sie einfach vorbei, Frau Seibold«, antwortete er auf ihre Frage. Katharina legte den Hörer auf und machte sich sofort auf, um in die Rechtsmedizin zu gehen.
Wie immer, wenn sie diese Richtung einschlug, beschlich sie ein Gefühl der Unwirklichkeit. So, als ob der Weg, der das Leben vom Tod trennte, nur so lang war, wie die Strecke, die sie zurücklegen musste. Als die schweren Doppeltüren sich automatisch vor ihr öffneten und hinter ihr wieder schlossen, stieg ein Übelkeitsgefühl in ihr empor. Sie hielt für einen Moment inne, versuchte, so flach wie möglich zu atmen, und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass es ihr immer wieder so erging. Jedes Mal, wenn sie den Geruch des Todes in formalingeschwängerter Luft wahrnahm, wurde ihr schlecht.
»Na, wird’s denn heute gehen?« Der Rechtsmediziner, der um Katharinas Schwäche wusste, hielt ihr ein parfümgetränktes Taschentuch hin.
Die Kommissarin griff eifrig danach und hielt es sich dicht vor die Nase. »Danke«, presste sie mühsam hervor, »ich denke, es geht gleich wieder.«
»Wenn nicht, geben Sie mir rechtzeitig ein Zeichen. Eine Nierenschale, in der noch nichts drin ist, lässt sich bestimmt schnell finden.« Er grinste.
Katharina drehte es allein bei dieser Vorstellung den Magen um, und sie wollte etwas Spitzes erwidern, fühlte sich aber außerstande, ihre Energie in eine Antwort zu investieren. Ob das schreckliche Parfüm, das ihr statt des Leichengeruchs in der Nase stach, Junker gehörte? Nein, sie wollte es lieber nicht wissen, vielleicht ginge es ihr gleich auch besser und sie brauchte es nicht länger.
»So, hier liegt also unser Bariton.« Sie standen jetzt vor der Leiche Felix Meisters. Mit einem Ruck schlug der Pathologe das weiße Tuch, das den Leichnam bedeckte, zurück.
Katharina, die schon viele Leichen gesehen hatte, konnte sich trotzdem nie an die vielfältigen Anblicke des Todes gewöhnen. Ob es die Unabänderlichkeit des Todes war, die einen selbst jedes Mal aufs Neue mit der eigenen Endlichkeit konfrontierte?
Vielleicht. Jedenfalls war dieser Mann mitten aus dem Leben gerissen worden, ohne wahrscheinlich irgendetwas davon geahnt zu haben. Sein Gesicht war vom Todeskampf gezeichnet, mit dem er nicht gerechnet zu haben schien, denn es vermittelte den Ausdruck eines unvorbereiteten Erstaunens.
»Woran ist er denn gestorben?«, fragte Katharina leiser als beabsichtigt, während sie angestrengt den Blick auf die Obduktionsschnitte auf dem Oberkörper des Toten vermied. Dr. Junker hatte ein Einsehen und breitete gnädig wieder das weiße Tuch über den Toten.
»Digitoxin-Vergiftung, also Vergiftung mit Digitalis «, antwortete er knapp. Auf Katharinas fragenden Blick setzte er erklärend hinzu: »Der Mann hatte eine Herzschwäche und musste sowieso regelmäßig Digitalis einnehmen.« Er machte eine Pause und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Die Bandbreite zwischen der therapeutischen und der tödlichen Dosis ist relativ gering, aber es ist eben das Mittel der Wahl.«
»Könnte es also möglich sein, dass Herr Meister sich einfach in der Dosierung seines Herzmedikamentes geirrt hat?«, fragte Katharina.
»Theoretisch schon«, der Rechtsmediziner wog nachdenklich den Kopf, »aber im Allgemeinen sind die Patienten daran gewöhnt, sich sehr genau an die – ganz individuell auf sie zugeschnittene – Dosierung zu halten.«
»Mit anderen Worten kann es also durchaus ein Versehen, aber wahrscheinlicher doch Mord gewesen sein.«
»Davon kann man ausgehen.«
»Danke, Herr Kollege, damit sind wir schon einmal ein Stück weiter.« Katharina wandte sich erleichtert zum Gehen.
»Da ist aber jetzt jemand froh«, frotzelte der Rechtsmediziner hinter ihr her, was sie, ohne sich umzudrehen, mit einem kurzen Heben der rechten Hand quittierte.
Für Ines Wagner war es inzwischen fast wie eine Sucht, sich in Felix’ Räumen aufzuhalten. Manchmal merkte sie erst dort, wenn sie gedankenverloren durch die Wohnung ging, dass sie sich »drüben« befand. Solange sie nicht wirklich begriff, wie er zu Tode gekommen war, weigerte sie sich, an dessen Unmittelbarkeit zu glauben, obwohl sie inzwischen auch im Herzen wusste, dass Felix nicht mehr lebte.
Als sie wieder einmal im schützenden Halbrund seines Ohrensessels saß, in dem sie sich so geborgen fühlte, hörte sie plötzlich Schritte, die vor der versiegelten Wohnungstüre Halt machten. Gehetzt sprang Ines auf und drängte sich nur Sekunden später an dem Bücherregal vorbei, das nur notdürftig die Verbindung zu ihren Räumen verbarg. Sie rückte es, so gut es ging, wieder an seinen Platz und schloss rasch die Verbindungstür, als sie auch schon Stimmen hörte, eine weibliche, die sie als die der Kommissarin erkannte, und eine männliche, jüngere, die ihr unbekannt war. Ines legte vorsichtig das Ohr an die Tür und versuchte zu erlauschen, was auf der anderen Seite gesprochen wurde. Ohne Erfolg, wie sie feststellte. Sie zuckte resigniert die Schultern, ließ sich angespannt auf der Sofakante nieder und harrte der Dinge, die da kamen. Denn dass sich drüben etwas tat, war nicht zu überhören.
Eine Viertelstunde später fuhr sie beim lauten Klang der Türglocke erschrocken zusammen.
»Guten Tag, Frau Wagner, es gibt Neuigkeiten. Darf ich hereinkommen?« Katharina Seibolds freundliches Gesicht zauberte ein längst vergessenes Lächeln auf Ines’ Gesicht. »Du kannst schon einmal vorausfahren, Sebastian«, wandte sich die Kommissarin über die Schulter an ihren jungen Kollegen, Kommissar Sebastian Grote. »Ich nehme dann den Bus.«
»Brauchst du mich denn nicht mehr?« Der junge Mann sah Ines neugierig an.
»Nein, das schaffe ich schon allein.« Sie lächelte. »Du kannst ja in der Rechtsmedizin schon mal nach dem Bericht fragen. Dann haben wir ihn auch schriftlich.«
»Okay, also dann bis später.« Sebastian Grote nickte den beiden Frauen kurz zu und verschwand.
»Frau Wagner«, Katharina sah ihrem Gegenüber ernst in die Augen, »ich möchte Ihnen mitteilen, dass Herr Meister an einer Überdosis Digitalis gestorben ist, also an einem Herzgift. Wissen Sie, ob er herzkrank war?«
Ines nickte zögernd. »Ja, ich weiß, dass Felix an einer Herzschwäche litt und dass er regelmäßig Tabletten nehmen musste. Haben Sie denn nichts in seinem Medikamentenschrank gefunden? Soweit ich weiß, steht der im Bad.«
»Im Medikamentenschrank haben wir natürlich nachgesehen, es waren aber nur Kopfschmerz- und Schlaftabletten drin. Von einem Herzpräparat keine Spur. Halten Sie es für möglich, dass Herr Meister sich in der Dosierung geirrt haben könnte?«
»Unmöglich!« Ines schüttelte entschlossen den Kopf. »Soweit ich weiß, nahm er dieses Medikament schon sehr lange, er wusste im Schlaf, wie er damit umgehen musste.«
»Könnten Sie sich dann vorstellen, dass es eine Manipulation war? Also dass jemand die Tabletten mit Absicht ausgetauscht hat, vielleicht gegen ein Medikament in einer höheren Dosierung?«
»Nein, das wäre ihm sicher aufgefallen, es sei denn die stärkeren Tabletten hätten das gleiche Aussehen gehabt wie seine eigenen.«
»Ja, das ist immerhin eine Möglichkeit, das müssen wir noch einmal genau recherchieren.« Katharina nickte und verabschiedete sich.
Auf dem Weg zum Präsidium ließ die Kommissarin der Verdacht der Manipulation nicht los. Irgendjemand musste Felix Meister nach dem Leben getrachtet haben, obwohl sich das niemand vorstellen konnte. Und wenn Frau Wagner selbst …? Vielleicht aus gekränkter Eitelkeit, weil er sie nicht erhörte? Nein, so wie Ines auf die Todesnachricht reagiert hatte, war das auszuschließen, die Kommissarin vertraute auf ihr geschultes, psychologisches Einfühlungsvermögen und auf ihr Gefühl. Es musste also eine andere Person geben, die sich entweder verstellte, oder noch gar nicht in Erscheinung getreten war.
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