»Ach, mein Freund,« sagte der arme Tupman, abermals die Hand seines Gefährten ergreifend, »empfangen Sie meinen wärmsten Dank für ihre uneigennützige Güte, und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit dem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Dienst vergelten?«
»Reden Sie nicht davon«, versetzte Herr Jingle.
Er hielt sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Übrigens, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblick zu besonderen Zwecken benötigt – zahle wieder in drei Tagen.«
»Aber mit Vergnügen«, versetzte Herr Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage sagen Sie?«
»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«
Herr Tupman zählte das Geld auf die Hand seines Gefährten, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Stück für Stück in seine Tasche gleiten.
»Vorsichtig«, sagte Herr Jingle – » ja keinen Blick.«
»Keine Silbe.«
»Nicht die leiseste.«
»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas unartig gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«
»Soll alles pünktlich geschehen«, sagte Herr Tupman laut.
»Ja, ja, tu es nur pünktlich !« dachte Herr Jingle; und sie traten ins Haus.
Die Szene des Nachmittags wurde am Abend wiederholt, und ein gleiches geschah an den drei nächstfolgenden Nachmittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Haltlosigkeit der Klage gegen Tupman überzeugt. Bei Herrn Tupman aber stand es ähnlich, da ihm Herr Jingle mitgeteilt hatte, seine Angelegenheit würde bald zur Entscheidung kommen. Herr Pickwick war ebenfalls heiter, weil er selten anders war. Nur von Snodgraß ließ sich das nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Herrn Tupman, während wieder die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Herr Jingle nebst Fräulein Tante – diese aus sehr erheblichen Gründen, die in einem andern Kapitel unserer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.
Zehntes Kapitel. Eine Entdeckung und eine Verfolgung.
Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren herangerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles verkündigte die Nähe des vergnüglichsten Zeitabschnitts im Verlauf des Tages.
»Wo ist Rachel?« fragte Herr Wardle.
»Ja, und wo Herr Jingle?« fügte Herr Pickwick bei.
»Ach du mein Himmel«, sagte der Hausherr, »es nimmt mich wunder, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Ich glaube, ich habe seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört. Liebe Emilie, klingle doch mal.«
Die Klingel wurde gezogen und der Junge trat ins Zimmer.
»Wo ist Fräulein Rachel?«
Er wußte nichts.
»Wo ist Herr Jingle?«
Er wußte es gleichfalls nicht.
Alle blickten sich überrascht an. Es war spät – bereits elf Uhr vorbei. Herr Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum und unterhielten sich von ihm. Ha, ha! Ein herrlicher Einfall – Kapitalspaß!
»Tut nichts – tut nichts«, sagte Herr Wardle nach einer kurzen Pause. »Ich wette, sie werden bald da sein. Mit dem Nachtessen warte ich nie auf jemand.«
»Treffliche Hausordnung, das«, bemerkte Herr Pickwick. »Bewunderungswürdig.«
»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, meine Herren«, sagte der Hausherr.
»Wenn Sie erlauben«, versetzte Herr Pickwick.
Und die Gesellschaft ließ sich nieder.
Ein ungeheures Stück kalten Rinderbratens stand auf dem Tisch, und Herr Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er erhob eben die Gabel zu seinen Lippen und war im Begriffe, den Mund zu öffnen und den Brocken dem obern Ende seines Verdauungskanals anzuvertrauen, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton vieler Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Herr Wardle hielt gleichfalls inne, und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in dem Fleische stecken. Er sah Herrn Pickwick an, und Herr Pickwick blickte auf Herrn Wardle.
Schwere Fußtritte ließen sich von dem Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Herrn Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefeln gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.
»Was, zum Teufel, soll das heißen?« rief der Hausherr.
»Hat etwa der Küchenschornstein Feuer gefangen, Emma?« fragte die alte Dame.
»Ach Gott, 's wird doch das nicht sein, Großmutter!« kreischten die jungen Damen.
»Was ist los?« rief der Hausherr.
Der Mann haschte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:
»Sie sind fort, Herr – auf und davon, Sir!«
Bei dieser Eröffnung sah man Herrn Tupman Messer und Gabel niederlegen und erblassen.
»Wer ist fort?« sagte Herr Wardle heftig.
»Herr Jingle und Fräulein Rachel – in einer Postkutsche – vom Blauen Löwen in Muggleton aus. Ich war dort – konnte sie aber nicht zurückhalten; und so lief ich, hast du was kannst du, um es hier mitzuteilen.«
»Und ich mußte die Kosten dazu herschießen!« rief Herr Tupman, ganz außer sich aufspringend. »Er hat zehn Pfund von mir mitgenommen! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir's nicht gefallen! Ich will mein Recht haben, Pickwick! Ich will nicht ruhig zusehen, wenn ich um mein Eigentum geprellt werde!«
Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen rannte Herr Tupman wie toll im Zimmer umher.
»Gott behüte uns!« rief Herr Pickwick, die. außerordentlichen Gebärden seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. »Er ist übergeschnappt; was fangen wir an?«
»Was wir anfangen?« entgegnete der Hausherr, der bloß Pickwicks letzte Worte gehört hatte. »Spannt das Pferd in die Deichsel. Ich will im Löwen eine Postkutsche nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo –« rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen – »wo ist der heillose Kerl, der Joe?«
»Hier bin ich – aber kein heilloser Kerl«, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.
»Lassen Sie mich, Pickwick!« schrie Wardle, als er auf den unglücklichen Joe losstürzen wollte. »Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen, damit er mir eine falsche Witterung beibringe und mir mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman einen blauen Dunst vormache.« (Hier sank Herr Tupman auf seinen Stuhl zurück.) »Lassen Sie mich – ich muß ihm zu Leibe.«
»Ach, halten Sie ihn ja fest!« kreischten die Frauenzimmer, und aus ihrem Geschrei hörte man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraus.
»Weg da!« rief der alte Mann. »Zurück mit Ihren Händen, Herr Winkle! Lassen Sie mich los, Herr Pickwick!«
Es war erbaulich, in diesem Augenblicke des Tumults und der Verwirrung den ruhigen und philosophischen Ausdruck in Herrn Pickwicks Gesicht wahrzunehmen. Er stand da, allerdings etwas gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seine« korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, und verhütete so einen tätlichen Ausbruch von dessen leidenschaftlichem Zorn, während der fette Junge von sämtlichen Damen zur Tür hinausgeschoben und gezerrt wurde. Er hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß der Wagen bereit wäre.
»Lassen Sie ihn nicht allein fort!« riefen die Frauenzimmer. »Es gibt ein Unglück!«
»Ich will ihn begleiten«, sagte Herr Pickwick.
»Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick«, sagte Herr Wardle, seine Hand ergreifend. »Emma, gib Herrn Pickwick einen Schal um den Hals – rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. So kommen Sie – sind Sie fertig?«
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