Ich springe vom Sofa auf, ich stürze ins Badezimmer und reinige den Abfluss in der Dusche mit den Fingern, entferne das widerliche kleine vertrocknete Haarbüschel, werfe es ins Klo, fast ohne es zu merken, es geht so schnell, so schrecklich schnell, ich drehe das heiße Wasser auf und seife mich ein, aber was ist los mit diesen Seifenstücken, die auf den Toiletten in diesem Land herumliegen, in Haus und Hütte, diesen kleinen harten Seifenstücken, die man einfach nicht richtig zum Schäumen bringen kann, jede Menge verfärbter Risse weisen sie außerdem auf, aber vor allem sind sie steinhart und ganz und gar geruchlos, kein Hauch von Duft, und dabei komme ich mir so durch und durch verdreckt vor, nachdem ich diesen elenden Haarstrang angefasst habe, der so voller Bakterien und Dreck war, und ich schrubbe und schrubbe mit dem dysfunktionalen Seifenstück, schleudere es voller Wut weg, sehe vor meinem inneren Auge die halbvolle Zaloflasche beim Spülbecken in der Wohnzimmer-Küchen-Kombination.
Aber am Ende findet sich dann irgendwie doch noch alles. Als ich jedoch die Toilette abziehe, schwimmt das Haarbüschel oben. Zundertrocken natürlich. Ich muss die Zeit arbeiten lassen. Erst richtig Wasser einziehen lassen, ehe ich den nächsten Versuch mache. Denn das ist klar: Jedesmal, wenn ich die Toilette abziehe, schicke ich gleichzeitig ein Signal zu ihr dort oben, dass etwas erledigt ist. Und zum Beispiel jetzt: Dass ich wach und für den Tag bereit bin. Was ich im Grunde nicht bin, da es ja erst halb sechs ist, und da ich gelinde gesagt schlecht geschlafen habe. Als ich abermals unter die Decke auf dem Sofa krieche, höre ich es klar und deutlich. Dass auch ein Stock weiter hoch an einer Schnur gezogen wird. Das gleiche Grummeln in den Rohren wie gestern Abend.
Sie antwortet, denke ich. Dann schlafe ich wieder ein.
Und erwache in einem Meer aus Licht, ja, in der Sonne, die durch frisch geputzte Fenster hereinflutet, sie legt sich über den Boden wie ein goldener Teppich, und das grüne Leuchten des Gartens … Wohin ist die entsetzliche Nacht verschwunden? Die kranken Träume? Die unruhigen Morgenstunden? Der widerliche Strang fremder Schamhaare?
Ich laufe hinüber und ziehe an der Schnur.
Später besteige ich den Thron zum ersten Mal. Hervorragend. Es ist eng hier, man muss sich wegen des Waschbeckens ein wenig zur Seite beugen, aber das macht nichts. Es gibt Schlimmeres auf der Welt, als sich ein wenig zur Seite zu beugen. Das kann ich unterschreiben. Auch diese kleine Eigenheit wird nicht auf irgendeiner Mängelliste zu finden sein, wenn ich in einigen Tagen eine vermutlich ziemlich gute Mahlzeit mit meiner lieben Vermieterin verzehre. Auch die Dusche funktioniert hervorragend, aber es ist klar: Man steht ja dort draußen und fragt sich, wie man sich dem Pilzangriff gegenüber verhalten soll. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen.
Ich trinke zuerst eine Tasse Tee, während ich die handgezeichnete Karte studiere, die ich bekommen habe. Ich habe offenbar die Wahl zwischen zwei Supermärkten. Der eine, eine Spar-Filiale, liegt gleich die Straße hinunter. Und dann haben wir unten im Sandaker-Center einen Coop. Letzterer wird die erste Wahl sein, wenn der Herr sich zusätzlich zum eigentlichen Einkauf auch einen soliden Spaziergang wünscht.
Aber das wäre heute kaum das Richtige, da leere Schränke und Regalfächer darauf warten, mit Grundnahrungsmitteln gefüllt zu werden. Heute ist der Nah-Spar angesagt, danach ein schneller Rückzug, ein spätes Frühstück und dann trautes Heim.
So sieht der Plan aus.
Aber zuerst einen guten Becher Tee, abermals anonym spendiert, vermutlich von meinem Vormieter oder meiner Vormieterin, vielleicht war diese Person ja auch mit Annelore verwandt, was weiß denn ich. Hier gilt es jedenfalls, die Fenster und die Tür zum Garten geschlossen zu halten, wenn man selbst nicht anwesend ist. Ein Heim auf Bodenniveau ist trotz allem mehr gefährdet als ein etwas weiter oben gelegenes. Andererseits würde schon einiges dazugehören, wenn ein Außenstehender mich hier unten in meinem Eckchen entdeckte. Die Wohnung ist von Straße und Bürgersteig her nicht zu sehen, und sie ist durch den Garten sehr schwer zugänglich, wegen des großen Steinbeetes, das die Witwe am Hang angelegt hat. Der einzig logische Weg in meine Wohnung hier in der Sockeletage ist die Treppe, die ich selbst gestern Abend hinuntergestiegen bin. Dann aber muss man an Annelores Küchenfenster vorbei. Und da der Bereich zwischen Gartentor und Haus von Kies bedeckt ist, würde sie sicher sofort gewarnt sein, selbst, wenn sie sich hingelegt hätte oder vor dem Fernseher säße.
Denke ich.
Streife die Pantoffeln über und öffne die Tür zum Garten.
Schon gefällt mir diese Abkürzung. Direkt in den Garten, aus dem eigenen Heim. Ich verstehe sehr bald, dass das Sonnenfunkeln, zu dem ich erwacht bin, das einzige dieses Tages ist. Hier draußen herrscht eine schöne Dunkelheit. Die massive Kiefernhecke, die den Meijern gehört, steht da wie ein zerzauster Riese. Gut. Dann brauche ich diese Leute nicht zu sehen. Es wäre nicht besonders lustig, ohne diese Hecke hier draußen zu wohnen. Dann hätten sie zu mir hereinschauen können. Und ich zu ihnen. Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre. Dass die nämliche Hecke die Sigurdsbude mehr oder weniger verschlungen hat, ist nicht meine Sache.
Ich drehe eine Runde durch das feuchte Gras. Johannisbeersträucher, wie versprochen. Hier und dort hängt noch eine Beere im gelben Blattwerk. An einem Apfelbaum: ein einzelner grüner Apfel. Die anderen Bäume sind nackt.
War da eine Bewegung hinter dem Wohnzimmervorhang oben?
Möglicherweise.
Sicherheitshalber schlendere ich wieder ins Haus. Es steht nicht fest, ob es ihr gefällt, wenn ich Tassen und Teller in den Garten hinausschleppe.
Ab und zu überkommt sie mich. Eine Mutlosigkeit. Im Laufe der Jahre hat sich vieles verändert, aber gerade diese Mutlosigkeit scheint ein Schatten zu sein, der mir bis ans Ende des Weges folgen wird. Da stehe ich so froh und zufrieden und schließe die Tür hinter mir zu, ich genieße das leise Klicken des Schlosses, versuche es einmal, zweimal, dreimal, die Tür ist abgeschlossen, das ist gut, ich nehme die Treppe in Angriff, aber als ich die Hausecke erreiche, ist Schluss.
Ich habe keine Lust, an Annelore Frimann-Clausens Küchenfenster vorbeizugehen.
Ich habe ganz einfach keine Lust.
Warum? Es hat etwas mit … Ich weiß nicht. Doch. Natürlich weiß ich es. Es liegt daran, dass ich weiß, dass sie von der Sorte ist, die im Halbdunkel steht und wartet. Wie gestern Abend. Die Tür ging ungefähr in dem Moment auf, in dem meine Fingerspitze den Klingelknopf berührte. Sie hatte gehört, wie ich das schmiedeeiserne Tor öffnete. Gleich darauf meine Schritte im Kies. Sie war bereit. Sie stand mäuschenstill da und wartete.
Gibt es denn einen Grund, warum sie nicht gehört haben sollte, wie ich die Wohnung unten im Haus verlassen habe? Nein, natürlich nicht. Diese Wohnung hat eine ganze Weile leer gestanden, das weiß ich. Der ehemalige Mieter, wer immer es gewesen sein mag, hat sie in totaler Einsamkeit zurückgelassen. Er (ich gehe davon aus, dass es ein Mann war, denn so wie ich das sehe, würde sich eine Frau preisgegeben fühlen, unsicher in einer Wohnung, wo sich fremde Männer in der Nacht verstecken und einfach hereinschauen können) hatte seine häuslichen Geräusche mitgenommen und sich zu einem anderen Aufenthaltsort weiterbegeben. Und da sitzt sie nun, geblendet von der plötzlichen Leere des Hauses. Nicht der Stille, denn alle Häuser haben ihre Geräusche, da ist der Wind, der die Zweige der Bäume über die Wände streichen lässt, es gibt plötzliches Sickern und Seufzen, es gibt Gurgeln in der Dachrinne. Nein, keine Stille, sondern Leere. Das Fehlen der Geräusche, die von einem anderen Menschen aus Fleisch und Blut stammen. Aber dann vergehen die Tage und die Wochen und die Monate, und sie gewöhnt sich daran. Das ist doch der große Segen des Menschen, jedenfalls ein großer Segen. Dass wir, egal was passiert, uns daran gewöhnen.
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